Totenbuch
stünden sogar die Polizisten auf der Gehaltsliste eines
Privatunternehmens.
»Bei uns zum Beispiel«, erwidert
Lucy und reicht Scarpetta eine gelb getönte Schutzbrille. »In Florida hatten
wir auch private Wachleute.«
Becky
interessiert sich für den Hartschalenkoffer, der offen auf dem Boden steht. Sie
betrachtet die fünf starken Tatortleuchten, die aussehen wie Taschenlampen, die
Neun-Volt-Nickelakkus, die Schutzbrillen und das Ladegerät. »Ich flehe den
Sheriff schon seit einer Ewigkeit an, uns eine dieser tragbaren Tatortleuchten
zu genehmigen. Jede deckt ein anderes Spektrum ab, richtig?«
»Violett, Blau, Blaugrün und
Grün«, erwidert Lucy. »Und dann haben wir noch dieses praktische
Breitband-Weißlicht« - sie hält es hoch - »mit auswechselbaren Filtern in Blau,
Grün und Rot zur Verstärkung von Kontrasten.«
»Und worauf reagiert es?«
»Auf Körperflüssigkeiten,
Fingerabdrücke, Drogenreste oder Faserspuren. Das klappt echt prima.«
Lucy wählt ein violettes Licht
im Bereich vierhundert bis vierhundertdreißig Nanometer aus und geht mit Becky
und Scarpetta ins Wohnzimmer. Die Rollläden sind geöffnet. Durch die Scheibe
ist der Pool mit dem schwarzen Grund zu sehen, in dem Holly Webster ertrunken
ist. Dahinter erstrecken sich Dünen, Strandhafer und Sand. Das Meer ist ruhig.
Im funkelnden Sonnenlicht erinnern die sanften Wellen an kleine silbrige
Fische.
»Hier sind jede Menge
Fußabdrücke«, stellt Becky fest, als sie sich umschauen. »Von nackten Füßen und
von Schuhen, alle recht klein, also wahrscheinlich ihre. Seltsam, dass er das
Fenster geputzt hat und den Boden offenbar nicht. Also müssten auf diesem stark
glänzenden Stein doch auch Schuhabdrücke von ihm vorhanden sein. Solche Fliesen
habe ich noch nie gesehen. Blau wie das Meer.«
»Vermutlich ist dieser Effekt
Absicht«, erwidert Scarpetta. »Sodalit, blauer Marmor, vielleicht auch
Lapislazuli.«
»Echt? Ich hatte einmal einen
Ring aus Lapislazuli. Kaum zu glauben, dass jemand seinen ganzen Fußboden damit
fliesen lässt. Offenbar nicht sehr schmutzanfällig«, sagt Becky. »Auch wenn
hier anscheinend seit Menschengedenken nicht mehr sauber gemacht wurde. Alles
voller Staub und Krümel, so wie auch im ganzen restlichen Haus. Wenn Sie mit
einer Taschenlampe in die Ecken leuchten, erkennen Sie es selbst. Deshalb will
es mir einfach nicht in den Kopf, wie der Täter es geschafft hat, keinen
einzigen Fußabdruck zu hinterlassen. Nicht einmal in der Waschküche, wo er
reingekommen ist.«
»Ich schaue mich mal ein
bisschen um«, verkündet Lucy. »Wie ist die Lage in der oberen Etage?«
»Mein Eindruck ist, dass sie das
Obergeschoss gar nicht bewohnt hat. Jedenfalls war der Täter ganz sicher nicht
oben, denn es wurde nichts angerührt. Dort gibt es nur Gästezimmer, eine
Bildersammlung und einen Raum, der mit Unterhaltungselektronik vollgestopft
ist. So ein Haus ist mir noch nie untergekommen. Bestimmt nett, hier zu
wohnen.«
»Mrs. Webster hat sich hier
sicher nicht wohl gefühlt«, entgegnet Scarpetta und betrachtet die langen
dunklen Haare überall auf dem Boden und die leeren Gläser und die Wodkaflasche
auf dem Couchtisch. »Ich denke, sie ist in diesem Haus niemals glücklich
gewesen.«
Madelisa ist noch keine Stunde
zu Hause, als es an der Tür läutet.
Früher hätte sie nie gefragt,
wer draußen ist.
»Wer ist da?«, ruft sie trotzdem
durch die geschlossene Tür.
»Ermittler Pete Marino vom
Gerichtsmedizinischen Institut«, erwidert eine tiefe Stimme. Der Akzent klingt
nach Nordstaaten.
Madelisa sieht ihre schlimmsten
Befürchtungen bestätigt: Die Dame aus dem Haus auf Hilton Head ist tot. Aus
welchem Grund sonst sollte ein Mitarbeiter des Gerichtsmedizinischen Instituts
bei ihr vor der Tür stehen? Warum musste Ashley nur gleich nach ihrer Heimkehr
unbedingt etwas erledigen fahren und sie allein lassen? Und das nach allem, was
sie durchgemacht hat! Sie lauscht. Zum Glück verhält sich der Basset im
Gästezimmer ruhig. Als Madelisa die Tür öffnet, zuckt sie erschrocken zusammen.
Der hünenhafte Mann ist gekleidet wie ein Motorradrocker. Ganz sicher hat er
die arme Frau umgebracht und Madelisa bis nach Hause verfolgt, um sie für immer
zum Schweigen zu bringen.
»Ich weiß nichts«, stammelt sie
und will die Tür zudrücken.
Doch der Killer stellt den Fuß
dazwischen und marschiert schnurstracks in die Wohnung. »Nur immer mit der
Ruhe«, versucht er sie zu beruhigen, klappt die Brieftasche auf und zeigt
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