Totenbuch
Schuldigen gefunden, denn
schließlich ist er in Wahrheit aufrichtig, tapfer und voller löblicher
Absichten. Nun jedoch weiß er, dass eher das Gegenteil zutrifft: Er ist ein
kranker, bis ins Mark verdorbener Egoist. Kein Wunder, dass seine Frau ihn
verlassen hat. Daran ist seine Karriere gescheitert. Deshalb hasst Lucy ihn.
Und aus diesem Grund hat er auch das Wertvollste zerstört, was er jemals
hatte: seine Freundschaft mit Scarpetta. Er hat sie kaputt gemacht und
vernichtet und Scarpettas Gefühle mit Füßen getreten - und zwar wegen einer
Sache, gegen die sie schlicht und ergreifend machtlos ist: Sie begehrt ihn
nicht. Warum sollte sie auch? Sie fühlt sich eben nicht von ihm angezogen.
Schließlich ist sie auch nicht dazu verpflichtet. Und dafür hat er sie jetzt
bestraft.
Marino schaltet einen Gang hoch,
gibt Gas. Er fährt viel zu schnell. Der Regen prasselt schmerzhaft gegen Hände
und Gesicht, als er zum »Strip« braust, wie er die Häuserzeile nennt, die die
Kneipenszene von Sullivan's Island bildet. Die Autos parken kreuz und quer.
Wegen des Wetters ist er, wie es aussieht, als Einziger mit dem Motorrad
unterwegs. Er ist durchgefroren, seine Finger sind steif. Der unerträgliche
Schmerz und die Scham, die er empfindet, mischen sich mit einer rasenden Wut.
Er nimmt den nutzlosen Halbschalenhelm ab, hängt ihn an den Lenker und
verriegelt das Lenkerschloss. Seine Regenkleidung quietscht, als er das Lokal
betritt, das mit rohem, verwittertem Holz, Deckenventilatoren und gerahmten
Plakaten ausgestattet ist. Sie stellen Raben dar oder werben für jeden Film
nach einem Werk von Edgar Allan Poe, der je gedreht worden ist. An der Theke
drängen sich die Gäste, und Marinos Herz klopft und flattert wie ein
erschrockener Vogel, als er Shandy zwischen zwei Männern erkennt. Einer von ihnen
trägt ein Biker-Kopftuch. Es ist der Kerl, den Marino letztens beinahe
erschossen hätte. Sie spricht mit ihm und presst sich eng an seinen Arm.
Regenwasser tropft von Marinos
Montur auf den zerschrammten Boden, als er an der Tür stehen bleibt, sich umschaut
und sich fragt, was er jetzt tun soll. Der Schmerz in ihm schwillt an, und sein
Herz schlägt so wild, als galoppierte eine Herde von Pferden durch seine Kehle.
Shandy und der Kopftuchmann trinken Bier und Tequila und naschen dazu
Tortillachips mit chili
con queso, wie sie es
früher mit Marino getan hat. Damals. Vor langer Zeit. Aus und vorbei. Heute
Morgen hat Marino sein Hormon-Gel nicht benutzt, sondern es - begleitet vom
hämischen Raunen des Ungeheuers in den düsteren Abgründen seiner Seele - widerstrebend
weggeworfen. Er begreift nicht, wie Shandy die Stirn haben kann, mit diesem
Mann hierherzukommen. Eine klare Aussage: Sie hat ihn dazu angestachelt,
Scarpetta gegenüber handgreiflich zu werden. Doch so abstoßend Shandy und
dieser Kerl - allein oder im Doppelpack - auch sein mögen, er, Marino, ist
dennoch der letzte Abschaum.
Ganz gleich, was sie auch getan
haben mag, um Scarpetta eins auszuwischen, hat er doch selbst die meiste Schuld
auf sich geladen.
Er nähert sich dem Tresen, ohne
Shandy eines Blickes zu würdigen, und tut, als hätte er sie nicht gesehen.
Dabei fragt er sich, wo wohl Shandys BMW sein mag. Wahrscheinlich hat sie ihn
in einer Seitenstraße geparkt, weil sie immer befürchtet, jemand könnte ihr die
Tür eindellen. Und wo ist der Chopper des Kopftuchmanns?
»Was kann ich dir bringen,
Süßer? Wo hast du eigentlich so lange gesteckt?« Marino schätzt die Barfrau auf
etwa fünfzehn, doch das geht ihm inzwischen bei allen jungen Leuten so.
Er ist so niedergeschlagen und
geistesabwesend, dass ihm ihr Name nicht einfallen will. Shelly? Kelly? Aber er befürchtet, er könnte sich
irren. »Budweiser light.« Er beugt sich über den Tresen. »Schau nicht hin,
aber siehst du den Kerl da bei Shandy?«
»Ja, die beiden waren schon
öfter hier.«
»Seit wann?«, fragt Marino,
während sie ihm ein Bier vom Fass hinstellt und er ihr einen Fünfdollarschein
zuschiebt.
»Heute gibt's zwei Bier für den
Preis von einem. Also kriegst du nachher noch eins, Süßer. Ach, seit ich hier
arbeite, kommen sie immer wieder her. So seit einem Jahr, glaube ich. Nur unter
uns gesagt: Ich kann die beiden nicht ausstehen. Frag mich nicht, wie er
heißt. Keine Ahnung. Außerdem ist er nicht der Einzige, mit dem sie sich
rumtreibt. Bestimmt ist sie verheiratet.«
»Was du nicht sagst!«
»Hoffentlich habt ihr beide
beschlossen, eine kleine Pause einzulegen. Das
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