Totenbuch
wabert um die Straßenlaternen, und Benton kann nicht
sagen, wo der Horizont und der Hafen enden und der Himmel beginnt. Bei diesem
Wetter ist es fast unmöglich, die Hand vor Augen zu sehen - bis sich plötzlich
etwas bewegt. Benton erstarrt, und sein Herz klopft schneller, als eine dunkle
Gestalt auf der anderen Straßenseite den Zaun entlangschleicht.
»Es rührt sich etwas«, meldet er
Lucy. »Ist jemand im Netzwerk? Ich kann nämlich nichts sehen.«
»Niemand«, hallt ihre Stimme
durch den Kopfhörer, womit sie ihm bestätigt, dass der Sandman sich nicht in
das drahtlose Netzwerk der Hafenverwaltung eingeloggt hat. »Was tut sich bei
dir?«
»Jemand ist am Zaun. Er ist etwa
auf Position drei Uhr stehen geblieben. Bewegt sich nicht.«
»Bin in knapp zehn Minuten da.«
»Ich steige jetzt aus«, sagt
Benton und öffnet langsam die Wagentür. Die Innenbeleuchtung schaltet sich
nicht ein. Es ist stockfinster. Das Prasseln wird immer lauter.
Benton holt seine Pistole unter
der Jacke hervor. Die Wagentür lehnt er nur an, um ja kein Geräusch zu
verursachen. Er hat Erfahrung in diesen Dingen, und zwar mehr, als ihm lieb
ist. Wie ein geisterhafter dunkler Schatten huscht er lautlos durch Pfützen und
Regen. Immer wieder hält er inne, um sich zu vergewissern, dass die Gestalt auf
der anderen Straßenseite ihn nicht bemerkt hat.
Was tut dieser Mensch denn da? Er steht einfach nur reglos am Zaun.
Als Benton näher kommt, rührt sich die Person noch immer nicht. Durch den
dichten Regenschleier kann Benton kaum etwas sehen, und er hört nur das
Rauschen von Wasser.
»Alles in Ordnung?«, lässt sich
Lucys Stimme vernehmen.
Benton antwortet nicht und geht
hinter einem Telefonmast in Deckung. Bitumengeruch steigt ihm in die Nase. Die
Gestalt am Zaun schleicht nach rechts, bis sie Position ein Uhr erreicht hat.
Benton schickt sich an, die Straße zu überqueren.
»Alles in Ordnung?« Lucys
Stimme.
Benton schweigt, denn die
Gestalt ist nun so nah, dass er ein im Schatten liegendes Gesicht und die
deutlichen Umrisse einer Mütze sowie Arme und Beine sehen kann. Er tritt vor
und richtet seine Waffe auf die Person.
»Stehen bleiben!«, sagt er
leise, aber in befehlsgewohntem Ton. »Ich ziele mit einer Pistole auf Ihren
Kopf. Keine falsche Bewegung.«
Der Mann - Benton ist sicher,
dass es ein Mann ist - rührt sich nicht und gibt keinen Mucks von sich.
»Und nun machen Sie einen
Schritt nach links. Aber ganz langsam. Jetzt auf die Knie und die Hände auf
den Kopf. Ich habe ihn«, fügt er, an Lucy gewandt, hinzu. »Du kannst kommen.«
So als wäre sie nur einen
Katzensprung entfernt.
»Moment.« Ihre Stimme klingt
angespannt. »Halte durch. Ich bin gleich da.«
Er weiß, dass sie viel zu weit
entfernt ist, um ihm helfen zu können, falls es brenzlig werden sollte.
Der Mann kniet, die Hände auf
dem Kopf, auf dem rissigen, nassen Asphalt. »Bitte nicht schießen!«, fleht er.
»Wer sind Sie?«, fragt Benton.
»Raus mit der Sprache! Was haben Sie hier zu suchen? Wie heißen Sie?«
»Nicht schießen!«
»Verdammt, jetzt machen Sie
schon endlich den Mund auf. Was haben Sie hier am Hafen verloren? Ich
wiederhole mich nur ungern.«
»Ich weiß, wer Sie sind. Wir
kennen uns. Stecken Sie die Waffe weg, meine Hände sind auf dem Kopf«, erwidert
die Stimme, während der Regen weiterprasselt. Benton fällt ein ausländischer
Akzent auf. »Ich bin hier, um den Mörder zu fassen, genau wie Sie. Richtig,
Benton Wesley? Bitte stecken Sie die Waffe weg. Ich bin es, Otto Poma. Ich bin
aus demselben Grund hier wie Sie. Ich bin Capitano Otto Poma. Die Waffe weg. Bitte.«
Mit dem Motorrad sind es von
Marinos Haus zu Poe 's Tavern nur wenige Minuten. Er könnte jetzt ein
Bier gut gebrauchen.
Die Straße ist schwarz und
glänzt feucht. Der Wind trägt den Geruch nach Regen, Meer und Sümpfen heran. Es
beruhigt Marino, auf seiner Roadmaster durch die dunkle regnerische Nacht zu
fahren, wohl wissend, dass er nichts trinken sollte, allerdings ohne der
Versuchung widerstehen zu können. Außerdem spielt es ohnehin keine Rolle mehr.
Seit dem Zwischenfall fühlt er sich elend bis auf den Grund seiner Seele und
von Todesangst erfüllt. Das Ungeheuer in ihm hat sich letztlich durchgesetzt. Es
ist an der Zeit, sich dem zu stellen, was er stets am meisten gefürchtet hat.
Er, Peter Rocco Marino, ist kein
guter Mensch. Wie fast alle Verbrecher, die er im Laufe seines Lebens dingfest
gemacht hat, hat er für seine Fehler stets einen
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