Totenbuch
Erforschung von Materialschwächen, wie zum
Beispiel bei Metallen, die man in der Waffenproduktion verwendet. Doch Technik
ist Technik, und Scarpetta hat keine Skrupel, die Wissenschaftler von Y -12 um Hilfe zu bitten.
Dr. Franz packt das Fenster aus
und legt es ebenso wie die Münze auf einen zehn Zentimeter dicken Drehtisch.
Dann richtet er eine Elektronenpistole, so groß wie eine kleine Rakete, und die
dahinter angebrachten Detektoren darauf und senkt sie so tief wie möglich auf
die mit Sand, Klebstoff und Scherben bedeckten verdächtigen Stellen. Um alles
richtig einzustellen, verwendet er eine Achsen-Fernbedienung. Es summt und
klickt, als er das Gerät immer wieder anhält, um zu verhindern, dass wertvolle
Geräteteile auf die Proben drücken oder etwas vom Tisch gestoßen wird. Dann
schließt er die Tür, um, wie er erklärt, in der Kammer ein Vakuum von genau
zehn zu minus sechs herzustellen. Zu guter Letzt wird er es auf zehn zu minus
zwei erhöhen, erklärt er weiter, sodass man die Tür trotz aller Mühe nicht mehr
öffnen könnte. Er macht es Scarpetta vor. Nun herrschen in der Kammer dieselben
Bedingungen wie im Weltraum, fährt er fort. Keine Feuchtigkeit. Kein
Sauerstoff. Nur die Moleküle eines Verbrechens.
Vakuumpumpen sind zu hören. Es
riecht elektrisch. Dann beginnt der Reinraum sich zu erwärmen. Scarpetta und
Dr. Franz gehen hinaus, schließen die Tür und kehren zurück ins Labor. Eine
Säule aus roten, gelben, grünen und weißen Lichtern versichert ihnen, dass
sich kein Mensch in der Kammer aufhält, denn der würde das sofort mit dem Leben
bezahlen. Dr. Franz vergleicht es mit einem Weltraumspaziergang ohne Raumanzug.
Er setzt sich an eine mit
verschiedenen Flachbildschirmen ausgestattete Computerkonsole. »Jetzt schauen
wir mal«, meint er zu Scarpetta. »Welche Vergrößerung? Wir können hochgehen bis
zweihunderttausendfach.« Das wäre möglich, soll aber ein Scherz sein.
»Dann sähe ein Sandkorn aus wie
ein Planet. Vielleicht entdecken wir ja menschliches Leben darauf«, erwidert
Scarpetta.
»Genau das habe ich mir auch
gedacht.« Er klickt sich durch verschiedene Menüs.
Scarpetta sitzt neben ihm. Das
Dröhnen der riesigen Vakuumpumpen erinnert sie an ein MRI-Gerät. Dann springt
die Turbopumpe an. Darauf folgt Stille, hin und wieder unterbrochen vom tiefen
Aufseufzen der Lüftung des Trocknungsgeräts, das klingt wie das Stöhnen eines
Wals. Nach einer Weile leuchtet ein grünes Lämpchen auf. Nun können sie die
Ergebnisse ablesen, während der Elektronenstrahl über die Fensterscheibe
streicht.
»Sand«, verkündet Dr. Franz.
»Und was zum Teufel soll das sein?«
Zwischen den unterschiedlich
geformten Sandkörnern, die wie Gesteinssplitter aussehen, entdecken sie Kugeln
mit Kratern, die den Eindruck von mikroskopisch kleinen Meteroriten und Monden
machen. Die Elementaranalyse ergibt - zusätzlich zu dem im Sand enthaltenen Silizium
- Barium, Antimon und Blei.
»Wurden in diesem Fall Schüsse
abgegeben?«, fragt Dr. Franz.
»Nicht, soweit ich weiß«,
erwidert Scarpetta. »Wie in Rom«, fügt sie hinzu.
»Es könnte sich um
Verunreinigungen durch Umwelteinflüsse handeln«, mutmaßt er. »Der größte Anteil
ist natürlich Silizium. Außerdem noch Kalium, Sodium, Kalzium und - keine
Ahnung, warum - Aluminiumspuren. Den Hintergrund, also das Glas, werde ich mal
ausblenden.« Inzwischen führt er Selbstgespräche.
»Eine ganz ähnliche
Zusammensetzung wurde in Rom festgestellt«, wiederholt sie. »Und zwar bei der
Untersuchung des Sandes in Drew Martins Augenhöhlen. Das betone ich deshalb so,
weil ich es selbst noch nicht ganz glaube. Verstehen kann ich jedenfalls nicht,
woher die Schießrückstände stammen sollen. Und was sind diese dunklen Schichten
hier?« Sie deutet mit dem Finger darauf.
»Das ist der Klebstoff«,
antwortet er. »Wenn ich so frei sein darf, würde ich behaupten, dass der Sand
weder aus Rom noch aus der näheren Umgebung kommt. Dasselbe gilt für den Sand
im Fall Drew Martin, der keinen Basalt oder sonst irgendwelche Hinweise auf
Vulkantätigkeit enthielt, wie man sie in dieser Region eigentlich vermuten
müsste. Offenbar hat der Täter seinen eigenen Sand nach Rom mitgebracht.«
»Soweit ich weiß, wurde niemals
davon ausgegangen, dass es sich um einheimischen Sand handelt, zumindest nicht
um welchen von den Stränden in Ostia. Keine Ahnung, was der Täter uns damit
sagen will. Vielleicht ist der Sand ja ein Symbol und hat eine
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