Totenbuch
war nur so ein Tipp, Süßer.«
»Ich bin fertig mit ihr«, sagt
Marino und trinkt sein Bier. »Es war nichts weiter.«
»Nichts als Ärger, nehme ich
an«, erwidert Shelly.
Marino spürt, dass Shandy ihn
anstarrt. Sie hat aufgehört, mit dem Kopftuchmann zu sprechen. Marino nimmt an,
dass sie schon seit einer geraumen Zeit mit dem Kerl ins Bett geht. Er denkt an
die gestohlenen Münzen und fragt sich, woher sie wohl ihr Geld hat. Vielleicht
hat Daddy ihr ja nichts vermacht, weshalb sie sich berechtigt fühlte, ihn zu
bestehlen. Mittlerweile stellt Marino sich jede Menge Fragen, nur dass es dafür
leider ein bisschen zu spät ist. Shandy beobachtet mit vor Zorn funkelnden
Augen, wie er das eiskalte Bierglas hebt und einen Schluck nimmt. Kurz spielt
Marino mit dem Gedanken, zu ihr rüberzugehen, bringt es aber nicht über sich.
Er ist sicher, dass die beiden
seine Fragen nicht beantworten, sondern ihm nur ins Gesicht lachen werden.
Shandy versetzt dem Kopftuchmann einen Rippenstoß, worauf dieser Marino hämisch
angrinst. Offenbar findet er es urkomisch, Shandy hier in aller Öffentlichkeit
abzutatschen, wohl wissend, dass sie nie wirklich mit Marino zusammen war. Mit
wem zum Teufel hat sie es sonst noch getrieben?
Marino reißt sich die Kette mit
dem Silberdollar vom Hals und wirft sie in sein Bier, wo sie mit einem Plopp
auf den Grund des Glases sinkt. Dann lässt er das Glas über den Tresen zu den
beiden hinüberrutschen. Als es kurz vor ihnen stehen bleibt, geht er hinaus,
in der Hoffnung, dass sie ihm folgen werden. Inzwischen hat der Regen
nachgelassen. Der Asphalt dampft im Schein der Straßenlaternen. Marino lässt
sich auf der nassen Sitzbank seines Motorrads nieder, beobachtet wartend die
Tür von Poe's
Tavern und hofft,
dass die beiden bald kommen. Vielleicht ergibt sich ja eine Gelegenheit, eine
Prügelei anzuzetteln, bei der er hoffentlich ins Gras beißen wird. Er wünscht,
sein Herz würde langsamer klopfen, damit seine Brust nicht mehr so wehtut. Ob
er jetzt einen Herzanfall kriegt? Eigentlich wäre es nur recht und billig, wenn
sein Herz sich gegen ihn wendet, denn schließlich ist er ja ein schlechter
Mensch. Also wartet er weiter und betrachtet die Tür und die Gäste hinter den
erleuchteten Fenstern. Alle außer ihm sind glücklich. Er zündet sich eine
Zigarette an und sitzt, wartend und rauchend, in nassen Regensachen auf seinem
Motorrad.
Er ist so eine Null, dass er er
es nicht einmal mehr schafft, andere Menschen wütend zu machen. Er kann keinen
Streit mehr vom Zaun brechen. Er ist ein Versager, wie er da draußen in Regen
und Dunkelheit hockt, auf die Tür starrt und wünscht, Shandy, der Kopftuchmann
oder alle beide würden herauskommen und ihm das Gefühl geben, dass er noch
etwas wert ist. Aber die Tür geht nicht auf. Er interessiert sie nicht. Sie
fürchten sich nicht vor ihm. Für sie ist Marino eine Witzfigur. Er wartet und
raucht. Nach einer Weile entriegelt er das Lenkerschloss und lässt den Motor
an.
Dann gibt er Gas und braust mit
quietschenden Reifen davon. Als er das Motorrad unter der Fischerhütte
abstellt, lässt er den Schlüssel stecken: Er braucht das Motorrad nicht mehr.
Wo er hingeht, wird nicht Motorrad gefahren. Mit schnellen Schritten - die
jedoch noch immer langsamer sind als das Klopfen seines Herzens - steuert er
auf seinen Steg zu und steigt die Stufen hinauf. Dabei denkt er daran, wie
Shandy Witze über den altersschwachen, wackeligen Steg gerissen und gesagt
hat, er sei so lang und dünn wie eine Stabheuschrecke. Damals, bei ihrem ersten
Besuch hier, fand er, dass sie komisch war und gut mit Worten umgehen konnte.
Sie haben sich die ganze Nacht lang geliebt. Vor zehn Tagen war das. Doch
offenbar hat es ihr nichts bedeutet, denn er muss mittlerweile annehmen, dass
sie ihn nur benutzt hat. Anscheinend war es kein Zufall, dass sie ihn
ausgerechnet an dem Abend des Tages angebaggert hat, an dem der kleine Junge
gefunden wurde. Ob sie ihn wohl aushorchen wollte? Und er hat es zugelassen.
Daran ist nur der Ring schuld. Scarpetta hat einen Ring bekommen, und Marino
hat deshalb den Verstand verloren. Seine klobigen Stiefel poltern laut auf dem
Steg, die verwitterten Holzbohlen schwanken unter seinem Gewicht, und winzige
Moskitos umschwirren ihn wie in einem Comic-Strip.
Am Ende des Stegs bleibt Marino
schwer atmend stehen. Er fühlt sich, als würde er von Millionen von Zähnen bei
lebendigem Leibe aufgefressen, während ihm Tränen über die Wangen laufen.
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