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Totenbuch

Totenbuch

Titel: Totenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Seine
Brust hebt und senkt sich so schnell, wie er es einmal bei einem
Hinrichtungskandidaten kurz nach der Verabreichung der Todesspritze beobachtet
hat. Wenig später verfärbte sich das Gesicht des Mannes dunkelblau, und er
starb. Die Nacht ist so finster und bewölkt, dass es aussieht, als gingen
Wasser und Himmel ineinander über. Unter Marinos Füßen rumpeln die Bojen.
Wasser schwappt leise gegen die Pfosten.
    Er stößt einen Schrei aus, der
nicht von ihm zu kommen scheint, als er ausholt und Mobiltelefon und Ohrhörer
so weit weg wie möglich schleudert. Sie landen in so großer Entfernung im
Wasser, dass nicht einmal das Geräusch des Aufpralls zu hören ist.
     
    19
     
    Nationale Sicherheitszentrale Y -12: Scarpetta stoppt ihren Mietwagen an
einem Kontrollposten inmitten von Betonbarrieren und mit Nato-Draht bewehrten
Zäunen.
    Zum zweiten Mal innerhalb der
letzten fünf Minuten muss sie das Fenster öffnen und dem Wachmann ihre
Identifikationsmarke reichen. Während dieser ins Wachhäuschen tritt, um zu
telefonieren, durchsucht sein Kollege den Kofferraum des roten Dodge Stratus,
der Scarpetta bei ihrer Landung in Knoxville vor einer Stunde zu ihrem Bedauern
bei Hertz erwartet hat. Sie hatte eigentlich einen SUV bestellt. Außerdem mag
sie rote Autos genauso wenig wie rote Kleidung. Die Wachleute wirken
misstrauischer als bei ihrem letzten Besuch, so als errege der Wagen ihren
Argwohn. Dabei herrscht hier ohnehin schon höchste Sicherheitsstufe. In Y -12 wird nämlich der größte Vorrat des
ganzen Landes an angereichertem Uran gelagert. Wegen der strengen Kontrollen
belästigt Scarpetta die hier arbeitenden Wissenschaftler nur, wenn die Gesamtheit
ihrer Fragen - wie sie selbst es ausdrückt - eine kritische Masse erreicht hat.
    Auf dem Rücksitz liegen das in
braunes Papier verpackte Fenster aus Lydia Websters Waschküche und eine kleine
Schachtel mit der Münze, auf der sich der Fingerabdruck der unbekannten
Kinderleiche befindet. Im hinteren Teil der Anlage steht ein rotes Backsteingebäude,
das sich äußerlich nicht von den anderen unterscheidet. Doch es beherbergt ein
Labor, das wiederum über das größte Elektronenmikroskop der Welt verfügt.
    »Sie können da drüben anhalten.«
Ein Wachmann deutet mit dem Finger in die Richtung. »Er kommt gleich. Fahren
Sie ihm einfach nach.«
    Scarpetta gehorcht und wartet
auf den schwarzen Tahoe von Dr. Franz, dem Leiter des Labors für Materialforschung.
Wie immer wird sie ihm folgen, denn ganz gleich, wie oft sie schon hier gewesen
ist, sie findet sich noch immer nicht auf dem Gelände zurecht. Niemals würde
sie es wagen, sich selbst auf die Suche zu machen, denn sich in einer Anlage zu
verirren, in der Atomwaffen hergestellt werden, könnte unangenehme
Konsequenzen haben. Der Tahoe erscheint und wendet. Dr. Franz' ausgestreckter
Arm winkt ihr zu, und Scarpetta fährt hinter ihm her, vorbei an gesichtslosen
Gebäuden, deren Namen man sofort wieder vergisst. Nach einer Weile werden die
betonierten Flächen von Waldstücken und offenen Feldern abgelöst, und
schließlich stehen sie vor den einstöckigen Labors, die auch »Technology 2020« genannt werden. Die idyllische
Szenerie trügt. Scarpetta und Dr. Franz steigen aus. Dann holt Scarpetta das in
braunes Papier gehüllte und mit dem Sicherheitsgurt fixierte Paket vom
Rücksitz.
    »Sie bringen uns immer die
interessantesten Dinge«, begrüßt sie Dr. Franz. »Beim letzten Mal war es eine
ganze Tür.«
    »Und wir haben tatsächlich einen
Fußabdruck daran gefunden, den niemand dort vermutet hätte.«
    »Alles ist möglich.« So lautet
Dr. Franz' Motto.
    Er ist etwa in Scarpettas Alter
und trägt ein Polohemd und ausgebeulte Jeans, sieht also ganz und gar nicht
aus wie ein Ingenieur für Metallurgie und Nukleartechnik, der tagein, tagaus
seine Zeit damit verbringt, ein Gewinde, die Spinndrüse einer Spinne oder
Einzelteile eines Raumschiffs oder U-Boots in Vergrößerung zu betrachten.
Scarpetta geht mit ihm ins Labor, das bis auf die riesige, von vier Trägern vom
Durchmesser eines Baumstamms gestützte Stahlkammer eigentlich nicht weiter
außergewöhnlich wirkt. Das VisiTech Large Chamber Scanning Electron Microscope
(LC-SEM) wiegt zehn Tonnen, sodass zu seinem Einbau ein Vierzig-Tonnen-Gabelstapler
benötigt wurde. Einfach ausgedrückt, handelt es sich um das größte Mikroskop
der Welt, das ursprünglich nicht für kriminaltechnische Untersuchungen gedacht
war. Sein eigentlicher Zweck ist die

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