Totenbuch
Konferenzzimmer.
»Nichts Ungewöhnliches«, meldet
Lucy. »Genauso wie immer.«
»Genauso?«, hakt Benton nach.
»Was meinst du mit wie immer?«
Die vier sitzen um einen kleinen
Tisch im ehemaligen Dienstbotentrakt. Vielleicht hat in diesem Raum einmal
eine junge Frau namens Mary gelebt, eine ehemalige Sklavin, die nach dem Bürgerkrieg
lieber bei ihrer Familie bleiben wollte, als frei zu sein. Scarpetta hat sich
eingehend über die Vergangenheit des Hauses erkundigt. Im Moment wünscht sie,
sie hätte es nie gekauft.
»Ich frage noch einmal«, sagt
Capitano Poma. »Hat es in letzter Zeit Schwierigkeiten mit ihm gegeben?
Berufliche Probleme vielleicht?«
»Hat er denn jemals keine
beruflichen Probleme gehabt?«, höhnt Lucy.
Marino ist wie vom Erdboden
verschluckt. Scarpetta hat ihn mindestens sechsmal angerufen, ohne dass er sich
gemeldet hätte. Lucy hat auf dem Herweg einen Abstecher zu seiner Fischerhütte
gemacht. Das Motorrad stand unter dem Haus, aber der Pick-up war fort. Niemand
hat aufgemacht: anscheinend nicht zu Hause. Lucy berichtet, sie hätte nur rasch
einen Blick durchs Fenster geworfen, aber Scarpetta kennt sie zu gut, um ihr
das zu glauben.
»Ja, ich würde sagen, dass er
momentan nicht glücklich ist«, sagt Scarpetta. »Er vermisst Florida, bereut den
Umzug und hat, wie mir scheint, keine Lust mehr, für mich zu arbeiten.
Allerdings ist jetzt nicht der richtige Moment, um über Marinos Probleme zu
reden.«
Sie spürt Bentons Augen auf
sich. Doch sie zieht es vor, sich Notizen zu machen, diese mit ihren alten
Aufzeichnungen zu vergleichen und vorläufige Laborberichte zu studieren, deren
Inhalt sie bereits auswendig kennt.
»Er ist nicht umgezogen«, fährt
Lucy fort. »Und wenn doch, hat er alle seine Sachen zurückgelassen.«
»Und das wollen Sie bei einem
raschen Blick durchs Fenster gesehen haben?« Offenbar hat Lucy die Neugier von
Capitano Poma geweckt.
Er beobachtet sie seit Anfang
der Besprechung und scheint sie amüsant zu finden. Doch sie straft ihn mit
Nichtachtung. Scarpetta mustert er mit derselben Miene wie schon in Rom.
»Was man so alles durch ein
Fenster bemerken kann«, sagt er, an Scarpetta gewandt, obwohl eigentlich Lucy gemeint
ist.
»Er hat auch seine E-Mails nicht
abgefragt«, spricht Lucy weiter. »Möglicherweise nimmt er an, dass ich sie
überwache. Kein Schriftwechsel zwischen ihm und Dr. Seif.«
»Mit anderen Worten: Er ist
abgetaucht«, stellt Scarpetta fest.
Sie steht auf und lässt die
Rollläden herunter, weil es draußen dunkel geworden ist. Es regnet wieder, und
zwar bereits seit Lucy sie in Knoxville abgeholt hat. Wegen des Nebels konnte
man die Berge dort kaum erkennen. Lucy musste sich auf eine andere Route
umdirigieren lassen, sich an Flüssen orientieren und stets langsam auf geringer
Höhe fliegen. Nur dem Glück - oder vielleicht dem lieben Gott - ist es zu
verdanken, dass sie heil angekommen sind. Die Suche nach Lydia Webster konnte
wegen des Wetters nur am Boden fortgesetzt werden. Man hat weder sie, ihre
Leiche noch ihren Cadillac gefunden.
»Am besten ordnen wir jetzt
unsere Gedanken«, schlägt Scarpetta vor, weil sie nicht über Marino sprechen
will, denn sie befürchtet, Benton könnte ihre Gefühle erahnen.
Schuldbewusstsein, Zorn und
Angst. Anscheinend hat Marino beschlossen, einfach spurlos zu verschwinden.
Ohne Vorwarnung ist er in seinen Pick-up gestiegen und davongefahren, ohne sich
für den Schaden zu entschuldigen, den er angerichtet hat. Das Reden war ja noch
nie seine Sache, und er hat sich auch nie sonderlich angestrengt, seine
komplizierten Gefühle zu verstehen. Mit seinem jüngsten Fehltritt ist er
offensichtlich überfordert. Sosehr Scarpetta sich auch bemüht, ihn zu vergessen
und ihn mit der Nichtachtung zu strafen, die er verdient, hält sich der Gedanke
an ihn wie ein beharrlicher Nebel und hüllt alles um sie herum ein. Eine Lüge
hat zur nächsten geführt. Benton hat sie vorgeschwindelt, die Heckklappe ihres
Geländewagens sei ihr versehentlich auf die Handgelenke gefallen. Daher die
Blutergüsse. Nackt hat er sie noch nicht gesehen.
»Wir müssen versuchen, die uns
vorliegenden Informationen zu verstehen«, wendet sie sich an die Anwesenden.
»Ich möchte gern über den Sand sprechen. Silizium, also Quarz und Kalkstein, in
dem bei hoher Vergrößerung Bruchstücke von Muscheln und Korallen zu sehen sind.
Typisch also für Sand in subtropischen Regionen wie beispielsweise hier.
Allerdings wundern mich die
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