Totenbuch
ihn.«
»Otto?«
»Ich traue ihm nicht. Hat er
tatsächlich darauf gewartet, dass der Sandman aufkreuzt, um seine E-Mails
abzuschicken? Zu Fuß? Im Regen? Bei Dunkelheit? Hat er dir seinen Besuch
angekündigt?«
»Offenbar hat er irgendwoher
erfahren, was hier geschieht und dass es Zusammenhänge zwischen dem Fall Drew
Martin und den Ereignissen in Charleston und auf Hilton Head gibt.«
»Ob Dr. Maroni geplaudert hat?«,
überlegt Benton. »Keine Ahnung. Der Mann ist wie ein Phantom.« Er meint den
Capitano. »Auf Schritt und Tritt stolpert man über ihn. Ich traue ihm nicht.«
»Vielleicht bin ich ja
diejenige, der du nicht traust«, erwidert sie. »Sprich es doch endlich aus und
bring es hinter dich.«
»Ich traue ihm nicht.«
»Dann solltest du nicht so viel
Zeit mit ihm verbringen.«
»Das tue ich auch nicht. Keine
Ahnung, was er den ganzen Tag so treibt. Allerdings werde ich den Eindruck
nicht los, dass er deinetwegen in Charleston ist. Seine Absichten sind doch
sonnenklar: Er will sich als Held aufspielen, um dich zu beeindrucken und ins
Bett zu kriegen. Ich kann dir nicht verdenken, dass du ihn attraktiv findest.
Er ist charmant, das muss ich ihm lassen.«
»Bist du etwa eifersüchtig auf
ihn? Er kann dir doch nicht das Wasser reichen. Außerdem habe ich nichts getan,
um solch einen Verdacht zu rechtfertigen. Schließlich bist du derjenige, der
oben im Norden wohnt und mich hier allein lässt. Ich habe vielmehr das Gefühl,
dass du diese Beziehung beenden möchtest. Sag es doch einfach und bring es
hinter dich.« Scarpetta betrachtet den Ring an ihrer linken Hand. »Soll ich ihn
abnehmen?« Sie zerrt daran.
»Nicht!«, protestiert Benton.
»Bitte nicht. Ich glaube nicht, dass du das wirklich willst.«
»Was ich will, spielt hier keine
Rolle. Offenbar habe ich mir das selbst eingebrockt.«
»Ich kann verstehen, dass andere
Männer sich in dich verlieben und mit dir ins Bett wollen. Soll ich dir
erklären, wo das wirkliche Problem liegt?«
»Ich gebe dir besser den Ring
zurück.«
»Lass mich zuerst ausreden«,
beharrt Benton. »Es wird langsam Zeit, dass du dich damit auseinandersetzt. Als
dein Vater starb, hat er einen Teil von dir mitgenommen.«
»Bitte sei nicht grausam.«
»Weil er dich angebetet hat«,
fährt Benton fort. »Was blieb ihm auch anderes übrig? Sein wunderschönes,
hochintelligentes, braves kleines Mädchen.«
»Es tut mir weh, wenn du darüber
sprichst.«
»Ich sage dir nur die Wahrheit,
Kay, und es ist wichtig, dass du mir zuhörst.« Das Licht leuchtet wieder in
seinen Augen.
Sie weicht seinem Blick aus.
»An diesem Tag hat etwas in dir
beschlossen, dass es zu gefährlich ist, es wahrzunehmen, wenn jemand dich
bewundert, liebt oder sexuell begehrt. Was ist, wenn er wieder stirbt? Das wäre
mehr, als du ertragen könntest. Also blendest du deine Sexualität aus, denn wie
könntest du mit Polizisten und Staatsanwälten zusammenarbeiten, wenn du
ständig daran denken müsstest, dass sie sich vorstellen, wie du nackt
aussiehst?«
»Hör auf. Warum tust du mir das
an?«
»Und so ignorierst du es
einfach.«
»Ich mache mich eben lieber frei
von derartigen Dingen. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich mir das, was
passiert ist, selbst zuzuschreiben habe.«
»Selbstverständlich nicht.«
»Ich will nicht mehr hier
wohnen«, fährt sie fort. »Und ich sollte dir den Ring zurückgeben. Immerhin ist
er von deiner Urgroßmutter.«
»Willst du wieder von zu Hause
weglaufen? Wie damals, als du niemanden mehr hattest außer deiner Mutter und
Dorothy? Du bist geflohen, ohne je irgendwo anzukommen, und hast dich hinter
deinem Studium und deiner Karriere verschanzt. So schnell bist du gerannt, dass
du zu beschäftigt warst, um etwas zu fühlen. Und jetzt möchtest du wieder
abhauen, genau wie Marino.«
»Ich hätte ihn nicht ins Haus
lassen sollen.«
»Seit zwanzig Jahren geht er bei
dir ein und aus. Welchen Grund hättest du also haben sollen, dich anders zu
verhalten als sonst? Außerdem war er so betrunken, dass er sich selbst
gefährdet hätte. Du bist nun einmal ein hilfsbereiter Mensch.«
»Weißt du es von Rose oder von
Lucy?«
»Indirekt von Dr. Seif. Sie hat
mir in einer E-Mail mitgeteilt, du und Marino hättet eine Affäre. Den Rest habe
ich von Lucy erfahren. Die Wahrheit. Schau mich an, Kay. Weich mir nicht aus.«
»Versprich mir, dass du ihn in
Ruhe lässt. Sonst würdest du es nur noch schlimmer machen, denn dann wärst du
wie er. Deshalb bist du mir also
Weitere Kostenlose Bücher