Totenbuch
konfrontiert.«
»Ich werde bald sterben«,
antwortet Rose. »Ich finde es schrecklich, Ihnen allen das antun zu müssen.«
»Was für ein Krebs ist es?« Sie
hält weiter Roses Hand.
»Lungenkrebs. Und bevor Sie sich
jetzt Vorwürfe machen, das käme alles vom Passivrauchen, weil Sie damals im
Büro eine nach der anderen gequalmt haben ...«, erwidert sie.
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen,
wie sehr ich das bereue.«
»Meine Krankheit hat nichts mit
Ihnen zu tun«, entgegnet Rose. »Ich habe sie mir auf ganz normalem Weg
zugezogen.«
»Ist es ein nicht-kleinzelliges
oder ein kleinzelliges Karzinom?«
»Ein nicht-kleinzelliges.«
»Ein Adenokarzinom oder ein
Lungenschleimhautkarzinom?«
»Ein Adenokarzinom. Meine Tante
ist auch daran gestorben, und sie hat wie ich ihr Leben lang nicht geraucht.
Ihr Großvater starb an einem Lungenschleimhautkarzinom. Er war Raucher. Niemals
hätte ich gedacht, dass ich einmal Lungenkrebs kriegen würde. Andererseits war
der Tod an sich für mich ja auch unvorstellbar. Ist das nicht albern?« Sie
seufzt. Langsam bekommt sie wieder Farbe, und ihre Augen leuchten. »Jeden Tag
setzen wir uns beruflich mit dem Tod auseinander, und es ändert doch nichts
daran, dass wir ihn leugnen. Sie haben recht, Dr. Scarpetta. Wahrscheinlich
hat es mich heute einfach überkommen. Wie aus heiterem Himmel.«
»Es wäre allmählich Zeit, dass
Sie mich Kay nennen.«
Sie schüttelt den Kopf.
»Warum? Sind wir denn nicht
befreundet?«
»Wir haben immer gewisse Grenzen
geachtet, was sich als Vorteil erwiesen hat. Ich fühle mich geehrt, für eine
Frau wie Sie arbeiten zu dürfen. Sie heißt Dr. Scarpetta. Oder Chefin.« Sie
lächelt. »Nie könnte ich sie mit Kay ansprechen.«
»Sie nehmen mir meine
Persönlichkeit. Außer, Sie meinen jemand anders.«
»Sie ist jemand anders. Jemand,
den Sie eigentlich nicht kennen. Wahrscheinlich haben Sie eine viel geringere
Meinung von ihr als ich. Insbesondere in letzter Zeit.«
»Tut mir leid, aber ich bin
nicht die Heldin, als die Sie mich gerade beschrieben haben. Bitte lassen Sie
sich von mir helfen. Ich könnte Ihnen einen Platz im besten Krebszentrum des
Landes besorgen, wo auch Lucy behandelt wird. Ich bringe Sie hin. Dort bekommen
Sie eine Therapie, die ...«
»Nein, nein und nochmals nein.«
Wieder schüttelt Rose langsam den Kopf. »Und jetzt sind Sie still und hören mir
gut zu. Ich war bei einer ganzen Reihe von Spezialisten. Erinnern Sie sich an
meine dreiwöchige Kreuzfahrt im letzten Sommer? Alles gelogen. Meine einzige
Reise war die von einem Facharzt zum anderen. Zu guter Letzt war Lucy mit mir
in Stanford, wo mir mein jetziger behandelnder Arzt empfohlen wurde. Die
Prognose war immer dieselbe. Chemotherapie und Bestrahlung waren die einzigen
Möglichkeiten, und das habe ich abgelehnt.«
»Wir sollten alles
Menschenmögliche versuchen.«
»Der Krebs ist bereits in
Stadium 3B, hat also einen Durchmesser von
knapp drei Zentimetern.«
»Hat er auf die Lymphknoten
übergegriffen?«
»Ja. Und die Knochen. Bald ist
Stadium 4 dran. Inoperabel.«
»Chemotherapie und Bestrahlung.
Vielleicht genügt Bestrah lung allein ja auch. Wir müssen
etwas unternehmen. Wir können doch nicht so einfach das Handtuch werfen.«
»Erstens einmal gibt es hier
kein wir, denn es geht einzig und allein
um mich. Und zweitens: Nein. Ich möchte
so etwas nicht durchmachen. Nur über meine Leiche werde ich zulassen, dass mir
die Haare ausfallen und ich mich schwach und elend fühle. Und das alles in dem
Wissen, dass die Krankheit mich ohnehin früher oder später umbringen wird. Lucy
hat mir sogar angeboten, mir Marihuana zu besorgen, damit mir von der
Chemotherapie nicht so übel wird. Können Sie sich mich beim Kiffen vorstellen?«
»Offenbar weiß sie schon von
Anfang an Bescheid«, sagt Scarpetta.
Rose nickt.
»Sie hätten es mir erzählen sollen.«
»Ich habe mich Lucy anvertraut.
Sie ist eine Meisterin darin, Geheimnisse zu bewahren, und hat so viele, dass
keiner von uns je ganz sicher sein wird, was wahr ist und was nicht. Genau so
eine Situation wie jetzt wollte ich unter allen Umständen vermeiden. Ich
möchte nicht, dass Sie sich meinetwegen Sorgen machen.«
»Sagen Sie mir, was ich für Sie
tun kann.« Trauer legt sich wie eine eiskalte Hand um Scarpettas Herz.
Ȁndern Sie das, was Sie
verändern können. Trauen Sie sich mehr zu.«
»Brauchen Sie irgendetwas?«,
hakt Scarpetta nach.
»Erst wenn man bald sterben
muss, wird einem klar, dass man
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