Totenfeuer
das Gespräch wieder in andere Bahnen lenken kann. Auf keinen Fall darf sie die Frage nach Jo wiederholen, das ist klar. Wichtig ist, das Kind erst einmal zum Reden zu bringen, am besten mit einem harmlosen Thema.
»Wie ist denn die Matheklausur gelaufen?«
»Ganz gut.«
»Dr. Bächle lässt fragen, ob du immer noch Rechtsmedizinerin werden möchtest.«
»Wieso?«
»Es interessiert ihn eben. Vielleicht hast du ihn beeindruckt.«
»Ich weiß nicht. Medizin wäre schon cool, oder?«
»Ich wäre sehr stolz auf dich. Aber das bin auch jetzt schon.«
»Echt? Wieso?«
Wieso, wieso, wieso … schlimmer als eine Dreijährige! Oda zügelt ihre Ungeduld und schmeichelt ihrer Tochter: »Ich finde auch, dass du dich recht gut entwickelt hast. Du bist eine angenehme Person, du bist in letzter Zeit fleißig in der Schule …«
»Und wenn ich ein Versager wäre? Würdest du mich dann nicht mögen?«, fällt ihr Veronika ins Wort.
»Wir sprachen von Stolz«, korrigiert Oda. »Mögen würde ich dich immer, ganz egal, was du anstellst. Das weißt du doch hoffentlich.« Das ist doch jetzt eine Brücke, wie sie goldener nicht sein kann, findet Oda und wartet gespannt, ob ihre Tochter sie beschreiten wird.
»Und wenn ich einen umgebracht hätte?«
»Hast du?«
»Nein. Aber wenn ich es getan hätte?«
»Dann würde ich mir die näheren Umstände betrachten.«
»Wenn ich einen megabrutalen, völlig sinnlosen Mord begehen würde. Zum Beispiel nur so aus Spaß einen Penner abfackeln. Würdest du mich dann auch noch mögen?«
»Das ist jetzt aber sehr hypothetisch«, wehrt Oda ab. Verdammt, wie kriege ich das Schiff wieder auf Kurs? »Ich wäre natürlich schockiert. Aber mögen würde ich dich trotzdem noch.«
»Krass«, findet Veronika. »Ist das so ein Mutter-Kind-Ding?«
»Vermutlich.«
Veronika leckt den letzten Rest Vanillesoße vom Löffel und sagt: »Mama, kann ich dir was erzählen?«
Odas Puls beschleunigt. »Ja, natürlich.«
»Aber du musst versprechen, dass du nicht ausrastest.«
»Ich verspreche es.«
Es klingelt an der Tür. Verflucht, wer ist das denn jetzt? Veronika steht auf.
»Du wolltest mir doch was erzählen!«, ruft Oda verzweifelt.
»Es hat geklingelt. Bist du taub?«, entgegnet Veronika.
»Egal. Ich meine: Ich esse noch, ich möchte jetzt nicht gestört werden.« Oda nimmt demonstrativ noch einen Löffel rote Grütze, aber gleichzeitig weiß sie, dass der kostbare Augenblick dahin ist.
»Wir sind doch schon fertig.« Neugierig strebt Veronika zur Tür.
Gleich darauf hört Oda eine wohlbekannte Stimme, und dann steht Jule Wedekin im Zimmer. Ihre Augen schwimmen in Tränen, als sie erst Oda und dann die Flasche auf dem Tisch anschaut und fragt: »Ist noch Wein da? Ich will mich betrinken.«
Oda deutet auf den freien Stuhl. Sie muss nicht fragen, was los ist, und murmelt voller Zorn: »Dieses Arschloch! Ich bring ihn um.«
Mittwoch
Nach zwei Flaschen Côteaux de Montélimar , die sie mit Oda zusammen geleert hat, konnte Jule tatsächlich einschlafen, doch mit dem Läuten des Weckers stürzen Kater und Liebeskummer auf sie ein wie Granatenhagel. Ihr Frühstück besteht aus zwei Aspirin und der Zeitung, aber die Buchstaben könnten auch chinesische Schriftzeichen sein. Ich habe schon attraktiver ausgesehen, stellt Jule fest, als sie nach einer Dusche den Spiegel im Bad trocken wischt. Gegen ihre sonstige Gewohnheit trägt sie Make-up auf, tuscht die Wimpern, schminkt sich die Lippen, pinselt Rouge auf die fahlen Wangen. Schon besser. Es muss mir ja nicht jeder gleich ansehen, wie es mir geht. Vor allen Dingen er nicht, falls ich ihn treffen sollte. Aber das werde ich vermeiden. Die nächsten Wochen ist die Kantine tabu.
Jule beschließt, zu Fuß zur Dienststelle zu gehen, in der Hoffnung, ein Spaziergang wird ihr guttun. Es ist ein Tag, wie man ihn sich lange gewünscht hat; die Luft britzelt vor Frische, die Menschen wirken gut gelaunt, die prächtigen Jugendstilfassaden der List erstrahlen wie von der Sonne poliert, und überall ist Vogelgezwitscher zu hören. Doch Jule ist, als wäre dies alles nur eine kitschige Kulisse für die anderen – die Glücklichen, die Verliebten, die Zufriedenen, die Mütter mit den niedlichen kleinen Kindern, die Frau, die ihre Frisur in einem spiegelnden Schaufenster ordnet, die herumalbernden Schüler, den alten Mann mit seinem alten Dackel, die beide aussehen, als würden sie lächeln. Sogar die Philosophen vor dem Kiosk, die ihren Morgenschluck nehmen,
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