Totenfeuer
bekannt wird, dann gilt Gutensohn im Dorf offiziell als Verdächtiger. Sollte es sich hinterher herausstellen, dass er unschuldig ist, dann kann sich die Familie Völxen gleich nach einer neuen Bleibe umsehen, und das käme ihm nicht gelegen, wo er schon so viel Zeit und Geld in den Umbau des alten Bauernhauses gesteckt hat. Nein, an seinem Wohnort darf er sich einfach keine Fehlschüsse leisten, er muss vorsichtig agieren. Doch die Ungeduld nagt an ihm, und gleichzeitig rücken ihm der Polizeipräsident, der Vizepräsident, die Staatsanwältin und die Presse immer hartnäckiger auf die Pelle.
»Wir müssen der Presse etwas Konkretes anbieten«, jammert der Vize. »Das Interesse der Öffentlichkeit an diesem Mordfall ist riesengroß.«
Das bekommt Völxen denn auch sofort nach der Sitzung zu spüren, denn vor seinem Büro lungert Boris Markstein von der Bild Hannover herum.
»Ja, es gibt einen Verdächtigen, aber aus ermittlungstaktischen Gründen kann ich nicht mehr dazu sagen.«
»Ist es jemand aus Ihrem Dorf?«
»Diese Frage kann ich nicht beantworten.«
»Herr Kommissar, wie ist das, wenn man gegen seine eigenen Nachbarn ermitteln muss?«, legt das Wieselgesicht im langen Trenchcoat den Finger auf die Wunde.
Na, wie ist das wohl? Seit zwei Tagen schnüffeln er und seine Leute nun im Privatleben seiner Nachbarn und an deren Gewehrläufen herum, und herausgekommen sind ein rachsüchtiger Witwer und ein betrogener Ehemann, und sogar das sind vorerst nur Gerüchte. Nicht gerade das, was man einen Durchbruch nennt. Zu Markstein sagt er: »Das macht keinen Unterschied. Wir ermitteln genauso intensiv und gründlich wie in jedem anderen Mordfall auch. Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an den Pressesprecher.«
Kommissarin Wedekin holt sich bei Frau Cebulla einen starken Kaffee. Eigentlich mag sie den Milchkaffee aus dem Automaten in der Kantine lieber, aber diesen Raum wird sie in nächster Zeit meiden, um nicht ihm zu begegnen.
»Frau Wedekin, haben Sie gestern Abend die Lokalnachrichten auf Leine- TV geschaut?«, wispert die Sekretärin, während sie ihren Ficus besprüht.
Jule verneint. »Wieso?«
»Da hätten Sie unseren Chef sehen können, wie er seinen entlaufenen Schafbock einfängt, nachdem ein Suchhund der Polizei ihn aufgestöbert hat«, kichert sie.
»Frau Cebulla, Sie werden staunen, ich habe sogar Exklusivmaterial!« Jule zückt ihr Handy und spielt Frau Cebulla den kleinen Videofilm vor, den sie gestern an der Kreuzung gedreht hat. Frau Cebulla kreischt vor Vergnügen, und auch Jule muss lächeln.
»Was ist so lustig?«, fragt eine Stimme hinter ihnen.
»Äh, gar nichts, Herr Hauptkommissar«, versichert Frau Cebulla, und Jule steckt rasch das Handy weg. Wie schafft ihr Chef es nur immer wieder, sich anzuschleichen wie ein Sioux?
»Frau Kommissarin , wie weit sind Sie mit der Auswertung der Papiere aus Roland Felks Haus?«
»Ich bin noch dabei. Roland Felk hatte unter anderem eine Lebensversicherung, deren Auszahlungssumme im Todesfall 150 000 Euro beträgt. Die Begünstigte ist seine Tochter Anna.«
»Es sind schon viele Leute für weniger Geld umgebracht worden«, bemerkt Völxen. »Bleiben Sie dran.« Dann mäandert ein finsterer Blick zwischen Frau Cebulla und Jule hin und her: »Und wenn hier heute noch irgendjemand das Wort Schafbock in den Mund nimmt, veranlasse ich dessen Versetzung ins Emsland, haben wir uns verstanden?«
»Vollkommen, Herr Hauptkommissar«, antwortet Jule und flüchtet in ihr Büro. Es geht ihr mittlerweile etwas besser, ihr Kopfschmerz ist schon fast verschwunden, und was den Herzschmerz betrifft: Auch wenn es noch immer sehr weh tut – ein bisschen kommt sie sich vor wie eine Kranke, die nach langem Leiden auf dem Weg der Genesung ist. Nur wäre sie lieber schon am Ende dieses Weges anstatt am Beginn. Sie schafft es sogar, Leonard aus ihren Gedanken zu verdrängen und sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. 150 000 Euro sind ein Mordmotiv, da hat Völxen nicht unrecht. Aber was sollte Anna mit dem Geld? Sie leidet doch auch so keinen Mangel, sie führte bis jetzt ein ganz normales Studentenleben. Außerdem hat sie bereits ihre Mutter verloren und erst vor wenigen Tagen ihren geliebten Großvater. In so einer Situation bringt man doch nicht auch noch seinen Vater um. Oder war ihr Verhältnis zu ihrem Vater schlechter, als sie angibt? Hat sie Schulden oder irgendein geheimes Laster – Drogen, Spielsucht, einen Freund, der sie ausnimmt? Jule macht sich
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