Totenfeuer
scheinen heute ein milderes Schicksal zu haben als sie. Ich bin verlassen worden. Sie hat immer gedacht, dass sie eines Tages die Kraft haben würde, Leonard zu verlassen. Dass es umgekehrt gekommen ist, ist nicht gerade das, woraus man Selbstbewusstsein und Lebensfreude schöpft. Ich-bin-ver-las-sen-wor-den . Der Satz bestimmt das wütende Stakkato ihrer Schritte. Sie ist nicht einmal ganz sicher, ob sie ihn nicht sogar halblaut vor sich hin murmelt wie eine Irre, während sie mit gesenktem Kopf durch den Frühlingsmorgen taumelt. Dabei ist ihr bewusst, dass sie sich gerade hemmungslos ihrem Selbstmitleid hingibt, aber warum auch nicht? Stolz, Selbstachtung, Selbstbeherrschung, wohin hat mich das, bitte schön, gebracht? Ich will nicht länger die kluge, beherrschte, vernünftige Jule sein, das kostet einfach zu viel Kraft. Ich möchte mich gehen lassen, möchte heulen und wütend sein. Der Frühlingswind trocknet die Tränen, die ihre Wangen hinunterrinnen, doch so rasch versiegt die Quelle nicht. Dieser Mistkerl, dieser Feigling, dieses Arschloch! Und trotzdem vermisse ich ihn, trotzdem tut es so verdammt weh. Wenn er doch nur zurückkäme, ich würde ihm verzeihen. Natürlich nicht sofort, das nicht, aber doch irgendwann …
Es ist fünf nach acht, als sie in der PD ankommt. Völxen mag es nicht, wenn man zu spät zur Morgenbesprechung kommt, aber sogar das ist ihr heute egal. Andere in meiner Verfassung würden sich krankschreiben lassen.
Tatsächlich sind schon alle in Völxens Büro versammelt, als Jule kleinlaut die Tür öffnet, eine Entschuldigung auf den Lippen.
Verdammt! Nicht nur Staatsanwältin Holzwarth ist da, sondern sogar der Vize. Sie erschrickt, als plötzlich alle aufstehen und applaudieren. Lieber Himmel, was für ein Aufstand. So spät ist sie nun auch wieder nicht dran, dass sie gleich so ironisch reagieren müssen.
Der Vizepräsident kommt mit einem dicken bunten Blumenstrauß auf sie zu. »Frau Wedekin, meinen herzlichen Glückwunsch. Ab heute sind Sie nicht mehr z. A. – zur Anstellung –, sondern eine richtige Kommissarin, eine Beamtin des Landes Niedersachsen. Wir freuen uns sehr, eine so engagierte, ehrgeizige junge Mitarbeiterin wie Sie im Dezernat 1.1.K zu wissen.«
Der Vize drückt ihr die Hand, ebenso ihr Chef Bodo Völxen, der heute sogar eine Krawatte trägt: »Schön, Sie bei uns zu haben«, sagt er mit einem warmherzigen Lächeln, und Jule muss aufpassen, dass sie nicht gleich wieder losheult. Auch die Staatsanwältin und Richard Nowotny gratulieren ihr. Frau Cebulla drückt sie an ihren üppigen Busen und murmelt etwas wie »unser kluges Mädchen«, dann umarmt Oda ihre Kollegin und zum Schluss Fernando, einen Tick zu lange.
»Vielen Dank!« Jule ist rot geworden und wischt sich die Augen. »Ich freue mich auch, dass ich bei euch … dass ich in diesem Dezernat sein darf.«
»Die Polizei braucht junge, engagierte Kräfte wie Sie«, sagt der Vize und beglückwünscht sie noch einmal »auch im Namen des Polizeipräsidenten«, bevor er davoneilt.
Frau Cebulla sucht nach einer Vase, und Jule lässt sich auf das kleine Ledersofa sinken. »Ein Jahr. Verdammt, ging das schnell.«
»Dafür musst du aber einen ausgeben«, fordert Fernando.
»Aber erst, wenn wir diesen Fall gelöst haben«, mahnt Völxen und eröffnet die Sitzung. »Also Leute. Wo stehen wir im Fall Roland Felk?«
Bodo Völxen befindet sich in einem Dilemma. Mit Karl-Heinz Gutensohn hat er einen veritablen Verdächtigen: Der Mann hat kein Alibi, er hegte aus mehreren Gründen einen Groll gegen das Opfer, und es ist durchaus denkbar, dass er nicht erst um halb neun, sondern eben doch ein paar Stunden früher im Revier unterwegs war und dort auf Felk traf. Vielleicht gab ein Wort das andere, und wenn man schon eine Waffe in der Hand hält … Er könnte die Leiche in sein Auto geladen haben, kräftig genug dafür ist er, und dann musste er nur noch warten, bis sein Sohn nach Hause kam, um zu wissen, dass jetzt die Gelegenheit günstig war, die Leiche auf vermeintlich praktische Weise loszuwerden. Im Grunde wäre nun der nächste logische Schritt, Gutensohns Fahrzeug einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Sollte er die Leiche darin transportiert haben, dann findet sich etwas: Blut, Haare, DNA . Notfalls könnte der geniale Hund Cäsar noch einmal zum Einsatz kommen und als stummer Zeuge fungieren. Aber die besonderen Umstände des Falls lassen Völxen zögern. Wenn erst die Beschlagnahmung des Fahrzeugs
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