Totenfluss: Thriller (German Edition)
Ihre Handtasche stand neben ihr auf dem Boden. Sie griff hinein, tastete nach der glatten Handyoberfläche und führte es an ihr Ohr, als sie es gefunden hatte. Dann murmelte sie etwas, das wie »Hallo« klang.
»Ist dort Susan Ward?«, fragte jemand. Die Stimme einer älteren Frau.
Susan blinzelte und versuchte, klar im Kopf zu werden.
»Vom Herald ?«
Etwas zerrte an Susans Hosenbein, und als sie nach unten schaute, sah sie die Ziege am schmutzigen Saum ihrer Jeans knabbern. Die Ziege. Großer Gott. Wie lange hatte sie geschlafen? Jetzt spürte sie auch eine wunde Stelle an der Wange, wo ihr Gesicht gegen die Naht des Kissens gedrückt hatte. »Wer spricht dort?«, fragte sie.
»Mein Name ist Gloria Larson. Ich schlafe nicht gut.«
Susan wartete.
Es blieb still in der Leitung.
»Und?«, fragte Susan.
»Ich lese gerne im Internet«, erklärte die alte Dame. »Sie haben uns einen Computerraum eingerichtet. Da gehe ich nachts hinunter, wenn ich nicht schlafen kann, und lese die Nachrichten. Ich habe Ihre Kolumne im Computer gesehen. Über das Skelett.«
Sie war eine Leserin. Eine der vielen älteren Wichtigtuer des Herald. Alte Menschen waren die Einzigen, die noch Zeitung lasen. Zumindest hatte sich diese Dame hier ins digitale Zeitalter aufgemacht. »Woher haben Sie diese Nummer?«, fragte Susan.
»Ich habe bei der Zeitung angerufen und die Zahl für Ihren Anrufbeantworter gedrückt, und auf einer Ansage war diese Nummer.«
Ian hatte ihre Mailboxansage geändert. Und ihre private Handynummer darauf gelassen. Idiot.
»Mrs. Larson, wenn Sie einen Leserbrief schreiben wollen …«
»Sie schreiben, man hat ein altes Skelett in der Nähe des Altwassers gefunden.« Gloria Larson hielt inne. Ihre Stimme klang plötzlich belegt. »Das eines Mannes.«
»Ja.«
»Ich war in Vanport«, sagte die Frau. »1948. Ich war dabei, als es überflutet wurde.«
Die Fotografien aus dem Krankenhaus blitzten vor Susans geistigem Auge auf. »Wirklich? Ich meine, o Mann. Tut mir leid.«
»Dieses Skelett, das man gefunden hat, ja? Ich glaube, der Mann hieß McBee.« Sie holte tief Luft. »Ich muss Schluss machen. Da kommt jemand.«
»Warten Sie!«, sagte Susan rasch. »Sie glauben wirklich, er ist in Vanport gestorben?«
Aber sie sprach zu sich selbst. Die Leitung war tot.
Susan drückte auf die Rückruftaste und kam an den Anrufbeantworter von Mississippi Magnolia Betreutes Wohnen.
Sie sah auf die Uhr. Es war halb fünf Uhr morgens. Über das ganze Wohnzimmer waren Pflanzenreste verteilt. Zerfetzte Blätter, Blüten. Dazwischen Keramikscherben und Glassplitter.
Die überlebenden Vasen waren leer.
Die Ziege hatte alle ihre Blumen gefressen.
23
Als Susan wieder aufwachte, hatte sie Kopfschmerzen und lag in ihrem Bett. Die Ziege war wieder in den Garten verbannt worden. Die Sonne war aufgegangen, jedenfalls soweit in diesen Tagen davon die Rede sein konnte. Hinter den Vorhängen war ihr Schlafzimmerfenster ein Rechteck aus grauem Licht. Sie drehte sich herum und machte das Radio an, um das Neueste über die Flut zu hören. Weiterer Regen stand bevor. Es wurde wärmer. Die Schneeschmelze war heftig. In den West Hills hatte es drei neue Erdrutsche gegeben. Zwei Häuser waren zerstört worden. Susan schaltete auf einen Sender mit Indie-Rock.
Ihr Kopf schmerzte.
McBee.
Sie war gar keine Journalistin mehr, zumindest nicht beim Herald . Ralph zu identifizieren, war nicht ihr Problem. Wahrscheinlich war die alte Dame nur eine von den Spinnern unter den Lesern des Herald. Falls sie andererseits tatsächlich etwas wusste und Susan einer heißen Sache auf der Spur gewesen war, als sie Vanport in ihrer Kolumne zur Sprache brachte – das wäre eine Rechtfertigung.
Dann hätte sie recht gehabt. Und Ian hätte sich geirrt.
Sie stand auf, nahm sechs Kopfschmerztabletten, machte Kaffee und zog schwarze Jeans und einen schwarzen Pullover an. – Mit den Regenbogen-Stiefeln, dem himbeerfarbenen Haar und der gelben Regenjacke war eine neutrale Grundlage unerlässlich. – Sie saugte die kleineren Keramikscherben im Wohnzimmer auf. Dann setzte sie sich hin und googelte »Mississippi Magnolia Betreutes Wohnen«. Besuche waren von 10.00 Uhr bis 19.00 Uhr gestattet. Und die Einrichtung lag in der North Mississippi Avenue, nicht weit vom Emanuel Hospital.
Es war nicht Ian, dem sie etwas beweisen wollte. Es war Henry.
Sie verharrte kurz vor der Tastatur und nahm ihren Mut zusammen, bevor sie die Adresse der Website des Herald eingab.
Weitere Kostenlose Bücher