Totenfluss: Thriller (German Edition)
über sie hinweg. Sie gehörten inzwischen so sehr dazu, wenn man sich in der Stadt aufhielt, dass man sie kaum noch wahrnahm. Einfach noch ein Geräusch, wie das Trommeln des Regens auf den Motorhauben der Autos.
Archie zog die Regenjacke über die kugelsichere Weste und drehte sich zu Flannigan und den beiden Streifenbeamten um.
Aus der Nähe und im Licht der Scheinwerfer erkannte er Flaum auf der Oberlippe des blonden Beamten. Er versuchte, sich einen Schnauzbart wachsen zu lassen.
»Wir haben es hier mit einer Geisel-Situation zu tun«, sagte Archie. »Der Schutz der Opfer hat Vorrang. Den Täter können wir später immer noch fangen. Aber wir holen niemanden von den Toten zurück.«
Die beiden Beamten nickten, ihr Haar war jetzt bereits nass.
»Okay«, sagte Archie. »Mir nach.«
Er sprang, um den breiten Streifen fließenden Wassers am Straßenrand zu überwinden, landete aber knöcheltief darin und musste einen weiteren Schritt machen, um den Gehsteig zu erreichen.
Flannigan war neben ihm, die Streifenbeamten ein Stück dahinter. Die Bäume spuckten von ihren nassen, windgeschüttelten Ästen Regen auf sie.
Archie zog seine Waffe nicht und wollte auch nicht, dass es die anderen taten. Sie befanden sich an einem öffentlichen Ort, und es konnte jeden Moment jemand auftauchen. Die Innenstadt war zwar evakuiert worden, aber das garantierte keineswegs, dass niemand so beschränkt war, die Warnung zu ignorieren.
Der nasse Gehsteig saugte an seinen Wildlederschuhen, und das kalte Wasser drückte in seine Socken.
Der Name auf dem Beleg von Aquarium World lautete Elroy Carey.
Es war leicht gewesen, sein Führerscheinfoto auszugraben, sobald sie einen Namen und eine Adresse gehabt hatten. Er war dreiundvierzig Jahre alt, hatte ein weiches, faltenloses Gesicht, rundliche Schultern und überrascht nach oben gezogene Augenbrauen. Sein braunes Haar war seitlich gescheitelt. Er sah aus wie ein zu groß geratenes Kind.
Carey hatte seinen Führerschein für Oregon vor drei Jahren bekommen und zur gleichen Zeit einen Dodge auf seinen Namen zugelassen. Davor hatte er in Everett, Washington, gelebt, nur wenige Stunden Fahrzeit von dort entfernt, wo Patrick Lifton verschwunden war.
Wurden Archies Füße irgendwie immer noch nasser?
Sie waren in eine Seitenstraße gebogen und marschierten in Richtung Parkway. Das Wasser auf dem Gehsteig war hier definitiv tiefer. Es spritzte beim Gehen an Archies Hosenbein. Stehendes Wasser. Nicht nasser Asphalt. Nicht eine Pfütze. Kein Gully-Rückstau. Das hier war eine kalte, tintenschwarze Wasserschicht, die an den Beton schwappte. Archie sah ihren Rand langsam die Straße entlangkriechen.
Das Wasser hatte eine Strömung.
Unter dem Dröhnen der Hubschrauber und dem Prasseln des Regens konnte Archie schwach ein neues Geräusch ausmachen – wie ein Wasserfall oder eine volllaufende Badewanne.
Flannigan hörte es ebenfalls. »Was ist das?«, fragte er.
»Das Wasser«, sagte Archie.
Flannigan spähte zum sternenlosen Himmel hinauf.
»Es ist nicht der Regen«, sagte Archie.
Es hatte angefangen.
Die Innenstadt wurde überflutet.
Wie aufs Stichwort knatterte Flannigans Funkgerät los. »Wir haben einen Bericht von einem Bruch der Flutmauer«, meldete die Zentrale.
Flannigan drückte den Sprechknopf. »Hier ist Flannigan«, sagte er. »Wir sind auf der Ash Street zwischen First und Naito. Hier steht das Wasser fünf Zentimeter tief und steigt noch. Was ist los?«
»In Sektor acht nahe der Burnside Bridge ist ein Loch. Sie müssen von dort verschwinden, Sir.«
»Kommt jemand, um es zu reparieren?«
»Roger. Aber Sie müssen den Bereich verlassen. Es heißt, die ganze Flutmauer könnte nachgeben.«
»Was passiert dann?«, fragte Archie.
»Was passiert dann?«, wiederholte Flannigan ins Funkgerät.
Einen Moment lang hört man nur statisches Rauschen. »Haben Sie schon mal gesehen, wie ein Insekt auf eine Windschutzscheibe trifft?«, kam schließlich die ruhige Antwort. »So wird es sein. Nur dass Sie das Insekt sind, und die Windschutzscheibe ist eine drei Meter hohe Wasserwand.«
Die beiden Streifenbeamten sahen einander an.
Archie wusste nicht sicher, ob Carey und die andern überhaupt in der Innenstadt waren. Vielleicht waren sie nicht so weit gekommen. Vielleicht hatte Archie alles falsch gedeutet. Vielleicht hatte Carey Susan und das Kind gar nicht. Vielleicht waren sie schon tot.
Archie hatte Heil das Leben gekostet. Er durfte kein weiteres außer seinem eigenen
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