Totengeld (German Edition)
Kamera. In der Mitte war eine Gruppe afghanischer Mädchen in Kopftüchern und traditionellen Kleidern zu sehen.
Ich zählte. Insgesamt sechs. Fünf standen untergehakt da, dieAugen voller Lachen und Schüchternheit. Das sechste Mädchen stand hinter der Gruppe und zeigte mit gespreizten Fingern »Teufelshörner« über dem Kopf eines anderen.
Das wirkte irgendwie nicht richtig.WarenTeufelshörner nicht ein sehr christliches Symbol?Wo hatten diese Mädchen es gelernt? Hatten sie es westlichen Soldaten abgeschaut?
Fünf Mädchen blickten direkt in die Kamera.Auch wenn sie unterschiedlich groß waren, schienen sie alle jungeTeenager zu sein, wahrscheinlich zwölf bis dreizehn Jahre alt. Das sechste Mädchen war teilweise verdeckt, schien aber ein bisschen größer zu sein als die anderen.Alle sechs hatten dunkleAugen und glänzend schwarze Haare, die ihnen in die Stirn fielen.
Heranwachsende Mädchen in einem verspieltenAugenblick. DasThema sprach gegen Katy als Quelle.Außer sie hatte es während eines Einsatzes aufgenommen.
Aber Katy hätte ein Smartphone oder eine Digitalkamera benutzt, keine Sofortbildkamera. Und warum sollte sie mir das Foto heimlich in den R ucksack stecken? Es wäre ein merkwürdiges Souvenir. Und auch wenn das ihreAbsicht gewesen wäre, warum hatte sie es mir nicht einfach gegeben?
Aus der Frage, wie ich zu dem Foto gekommen war, ergab sich die Frage nach seiner Herkunft.Afghanistan?Wahrscheinlich.
Die Mädchen standen wenige Schritte von der Ecke eines bescheidenen Steinhauses entfernt, wie ich sie in Sheyn Bagh gesehen hatte. Hinter dem Haus breitete sich in alle Richtungen trockeneWüste aus.Am äußersten linken Rand stach eine entfernte Felsformation wie eine Nadel in den wolkenlosen, blauen Himmel, dunkel und strukturlos, fast nur ein Schemen wegen der mangelndenTiefenschärfe.
DerAugenblick konnte in irgendeinem von Hunderten, vielleicht Tausenden von Dörfern irgendwo in Südasien aufgenommen sein.
Daraus ergab sich die nächste Frage. Die nach dem Fotografen.
Es war unwahrscheinlich, dass ein örtlicher Bauer eine Sofortbildkamera besaß.Aber möglich. Ein Geschenk aus Übersee.Vielleicht von einem alliierten Soldaten, der das Dorf besucht hatte.
Vielleicht war der Fotograf einAngehöriger der amerikanischen Streitkräfte.Vielleicht war Fotografieren einTrick, um sich bei den Einheimischen beliebt zu machen. Um die Herzen und die Köpfe zu gewinnen, wie es beim Militär heißt.
Ich ließ den Blick von Gesicht zu Gesicht wandern. Die Mädchen sahen aufgeregt, aber schüchtern aus, wieTeenager in der Gegenwart von Fremden eben sind. Das würde zu der Soldatentheorie passen.
Ich drehte die Hülle um und las, was auf der R ückseite desAbzugs stand. Eine Liste von Namen, alle in Großbuchstaben.
LAILA. KHANDAN. MAHTAB.ARA.TAAHIRA. HADIYA.
Sechs Mädchen. Sechs Namen.
Eindeutig nicht Katys Handschrift. Ihr Gekritzel sieht aus wie die Spuren einer Schnecke auf Sauftour.
Was mich neugierig machte, war dieTatsache, dass die Namen in lateinischer Schrift geschrieben waren. Paschtu wie Dari benutzenVariationen des persischenAlphabets.
Vielleicht hatte ein Soldat oder ein Marine das Foto geschossen und die Namen aufgeschrieben, wie die Mädchen sie ihm nannten. Das würde zu der Herz-und-Kopf-Theorie passen.
Ich stellte mir die Szene vor. Und überlegte. Hatten die Erwachsenen in stummer Missbilligung dabeigestanden? Hatten sie sich über das Lächeln ihrer Kinder gefreut? Hatten die Mädchen sich schnell fotografieren lassen, als die Eltern gerade einmal nicht hinschauten?
Ich drehte das Foto hin und her. Gesichter. Namen. Entsprach die Namensreihenfolge der Anordnung der Mädchen auf dem Foto? Hatte diese Anordnung irgendeine Bedeutung?
Welches Mädchen hatte das Foto erhalten? Hatte man ihr erlaubt, es zu behalten? Oder war es ihr abgenommen worden?
Eine andere Möglichkeit: Hatte der Soldat das Foto behalten, vielleicht um es seiner Familie zu Hause zu mailen? Um ihnen ein Gefühl für den Ort zu vermitteln? Um einer Mutter oder einer Ehefrau zu zeigen, dass die Einheimischen auch nur gewöhnliche Menschen waren?
Vielleicht wurden Fotos aber auch zur Dokumentation aufgenommen. Noch ein Herz-und-Kopf-Manöver. Beim nächsten Besuch in dem Dorf frag namentlich nach den Mädchen. Eltern lieben das.
Aber das war alles nur Spekulation. Und keineTheorie erklärte, wie das Foto in meinen R ucksack gelangt war.Aber immerhin konnte ich eineVerdächtige ausschließen oder
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