Totengrund
Jahre alt. Seit sie aus dem gefrorenen Erdreich ex humiert worden war, war das Gewebe aufgetaut. Das Gesicht des Mädchens war gespenstisch blass, ihr blondes Haar ein Kranz aus feuchten Löckchen. Gruber und sein Assistent gingen mit stillem Respekt vor, als sie die Leiche entkleideten, ihr das lange Baumwollkleid, einen knielangen Unterrock und den schlichten weißen Slip abnahmen. Der Körper, der jetzt nackt dalag, war schlank wie der einer Tänzerin, und obwohl sie tagelang unter der Erde gelegen hatte, war sie immer noch auf verstörende Weise schön, ihr Fleisch durch die frostigen Temperaturen des Hochtals vor der Verwesung bewahrt.
Die Beamten drängten sich dichter um den Monitor. Während Gruber Blut-, Urin- und Glaskörperproben für die Toxikologie entnahm, ruhten die Augen der Männer auf dem, was ihren Blicken hätte verborgen bleiben sollen. Es war eine Verletzung der Würde eines jungen Mädchens.
»Die Haut ist auffallend blass«, hörten sie Gruber über die Gegensprechanlage sagen. »Ich kann keinerlei Reströte erkennen.«
»Ist das von Bedeutung?«, fragte Detective Pasternak Maura.
»Bei einer Zyankalivergiftung verfärbt sich die Haut manchmal hellrot«, antwortete sie. »Aber diese Leiche war tagelang gefroren; ich weiß nicht, ob das einen Einfluss gehabt haben könnte.«
»Was würde man bei einer Zyankalivergiftung noch erwarten?«
»Wenn es oral eingenommen wird, kann es Mundhöhle und Lippen verätzen. Man müsste es an den Schleimhäuten sehen.«
Gruber hatte bereits einen behandschuhten Finger in die Mundhöhle der Leiche geschoben, um einen Blick hineinzuwerfen. »Schleimhäute sind trocken, aber ansonsten unauffällig.« Er sah durch die Scheibe zu seinen Zuschauern. »Können Sie auf dem Monitor alles gut sehen?«
Maura nickte ihm zu. »Sehen Sie keine Verätzungen?«, fragte sie über die Gegensprechanlage.
»Nein.«
»Soll Zyankali nicht nach Bittermandeln riechen?«, fragte Jane.
»Die beiden tragen Atemschutzmasken«, erwiderte Maura. »Sie könnten es gar nicht riechen.«
Gruber öffnete den Rumpf mit einem Y-Schnitt und griff nach der Knochenschere. Über die Gegensprechanlage hörten sie das wiederholte Knacken, als er die Rippen durchtrennte, und Maura bemerkte, dass einige der Beamten sich plötzlich abwandten und die Wand anstarrten. Gruber hob den Schild aus Rippen und Brustbein heraus, um die Brusthöhle freizulegen, und griff dann hinein, um die Lunge herauszuschneiden. Er hob einen triefnassen Lungenflügel heraus. »Kommt mir ziemlich schwer vor«, bemerkte er. »Und ich sehe hier auch rötlichen Schaum.« Er schnitt in das Organ, und Flüssigkeit rann heraus.
»Lungenödem«, sagte Maura.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Pasternak.
»Es ist ein unspezifischer Befund, der aber von einer ganzen Reihe von Drogen und Giftstoffen hervorgerufen sein kann.«
Während Gruber Herz und Lunge wog, blieb die Kamera starr auf den offenen Rumpf gerichtet. Jetzt sahen die Zuschauer nicht länger ein attraktives junges Mädchen. Was vor Minuten noch ein erregender Anblick gewesen sein mochte, war jetzt nur noch ein erkalteter, ausgeschlachteter Leichnam.
Gruber griff noch einmal nach seinem Messer, und auf dem Monitor erschienen seine Hände. »Diese verflixte Schutzmaske beschlägt immer wieder«, beschwerte er sich. »Ich werde Herz und Lunge später sezieren. Im Augenblick mache ich mir viel mehr Gedanken darüber, was ich im Magen vorfinden werde.«
»Was sagt Ihr Sensor?«, fragte Maura.
Der Assistent sah nach dem Monitor. »Er zeigt nichts an, weder Cyanwasserstoff noch sonst irgendetwas.«
»Okay, jetzt könnte es interessant werden«, meinte Gruber. Er wandte sich durch die Scheibe an seine Zuschauer. »Da wir es möglicherweise mit Zyankali zu tun haben, werde ich ein wenig anders vorgehen als sonst. Normalerweise schneide ich einfach die Bauchorgane heraus, um sie dann zu wiegen und zu sezieren. Aber diesmal werde ich den Magen zunächst abklemmen, ehe ich ihn als Ganzes reseziere.«
»Er wird ihn unter die Dunstabzugshaube legen, bevor er ihn aufschneidet«, erklärte Maura an Jane gewandt. »Nur zur Sicherheit.«
»Ist es wirklich so gefährlich?«
»Wenn Cyansalze der Magensäure ausgesetzt werden, kann sich ein giftiges Gas bilden. Sobald man den Magen aufschneidet, gelangt das Gas in die Raumluft. Deshalb tragen die beiden Atemschutzhauben. Und deshalb schneidet er den Magen auch erst auf, wenn er ihn unter dem Dunstabzug hat.«
Durch das
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