Totenhauch
Kellergeschoss. Während ich mich durch Kisten mit Urkunden und Dokumenten gewühlt und Datenbanken durchforstet hatte, war die Aktentasche lange Zeit unbeaufsichtigt gewesen. Falls sie offen gestanden hatte, hätte jeder im Vorbeigehen einen Blick auf die Bilder werfen können. Und das bedeutete, dass ich dem Mörder im Laufe des Tages irgendwann ganz nah gewesen war. Vielleicht waren wir sogar aneinander vorbeigegangen und hatten Höflichkeiten ausgetauscht. Wenn ich jetzt im Nachhinein daran dachte – nachdem der Zweck dieser Ketten und Flaschenzüge auf so grauenvolle Weise offensichtlich geworden war –, wurde mir übel.
Bevor Devlin kam, hatte ich eine Tabelle erstellt, in der ich alles zusammenfasste, was wir über die Gräber der einzelnen Opfer wussten, angefangen mit Hannah Fischer.
Neben einem Blumenmotiv hatte man eine schwebende Feder in den Grabstein eingraviert und dieses poetische Epitaph:
Die Mitternachtssterne weinen
Über ihrem stillen Grab.
Tot und doch träumend,
Für dieses Kind
Es keine Rettung gab.
Der Stein auf dem Grab, aus dem die noch nicht identifizierten Gebeine exhumiert worden waren, zeigte eine voll erblühte Rose, ein geflügeltes Seelenbildnis und die Inschrift:
Die zarte Rose so schnell verblasst,
Befreit von ird’scher Qual,
Liegt sie nun in ewiger Rast.
Da man Afton Delacourts Leiche auf dem Fußboden des Mausoleums hatte liegen lassen, gab es hier keine Bildsymbole oder Epitaphe, die ich hätte vergleichen können. Doch ich hielt es für möglich, dass die Symbole und die Inschrift auf der Gedenktafel, die uns durch die Grabkammer in das geheime Gewölbe geführt hatten, wichtige Hinweise waren. Das Zeichen der zerbrochenen Kette wich ab von den Motiven der Seele im Flug auf den beiden Grabsteinen, aber der Vers faszinierte mich:
Der Tag bricht an …
Die Schatten fliehn …
Die Fesseln gehen auf …
Und nun gesegnete Ruh’.
Als ich mir meine Tabelle noch einmal genauer ansah und die Begriffe »Feder«, »Seelenbildnis«, »zerbrochene Kette« und »Fesseln« unterstrich, spürte ich Erregung in mir aufwallen. Vielleicht hatte Tom Gerrity recht. Die Antwort lag vor mir, starrte mir direkt ins Gesicht, ich musste die Botschaft des Mörders nur richtig deuten.
Ich fragte mich, wie viel Zeit uns noch blieb, bis er sein nächstes Opfer holen würde.
»Was ist?«, fragte Devlin.
Es war so still gewesen im Raum, dass seine Stimme mich aufschreckte. Ich hatte fast vergessen, dass er da war, was mich ebenfalls überraschte. »Ich saß hier gerade und habe die Epitaphe und Symbole durchgeschaut, und da dachte ich plötzlich, dass Tom Gerrity recht hatte. In dem Ganzen steckt eine Botschaft, ich weiß nur nicht, wie ich sie deuten muss.« Ich stockte. »Haben Sie irgendetwas gefunden?«
»Nein, leider nicht.« Er klang so frustriert, wie ich mich fühlte.
»Wissen Sie, was mich immer noch stört? Woher der Mörder von diesen unterirdischen Gängen wusste.«
»Wie gesagt, alte Dokumente, Grundbucheinträge. Durch Zufall.« Er blickte auf. »Und wissen Sie, was mich stört? Die Art und Weise, wie dieses Skelett gefesselt war.«
»Weil es nicht ins Muster passt?«
»Genau.«
»Wann kriegen Sie Bescheid von Ethan?«
»Bald. Er behandelt die Sache vorrangig. Wenigstens kann er jetzt mögliche Anomalien oder Besonderheiten, die er an dem Skelett findet, mit denen der Gebeine vergleichen, die wir aus dem Grab exhumiert haben.«
Wir schwiegen beide eine Weile und konzentrierten uns auf die Bilder von Oak Grove.
Dann fiel mir etwas anderes ein, was ich ihm erzählen wollte.
»Wissen Sie noch, wie ich unlängst erwähnt habe, dass ich Daniel Meakin in Emerson im Archiv getroffen habe? Ich habe ihn an dem Tag nach einem fehlenden Register der alten Kirche gefragt, die früher zum Oak-Grove-Gelände gehört hat. Er hat gesagt, viele Dokumente seien während und nach dem Bürgerkrieg vernichtet worden, aber er hat auch gesagt, dass manche vielleicht einfach nur falsch abgelegt worden sind, weil da unten so ein Chaos ist. Und damit hat er recht. Jemand hätte ganz leicht irgendeine Urkunde oder ein Buch mitnehmen können, in dem diese Tunnel erwähnt werden, und das wäre niemandem aufgefallen.«
»Hat er außer dieser Kirche noch irgendetwas anderes erwähnt, was mit dem Grundstück in Zusammenhang steht?«
»Nein. Doch wir hatten darüber gesprochen. Er hat mir gesagt, dass er viele alte Bücher in seinem Büro hat, die sich auf Oak Grove beziehen. Er
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