Totenhauch
Wörter, Namen und sogar Lieder aus ihrer Sprache direkt bis nach Sierra Leone zurückverfolgt werden konnten. Ihr Glaube an Joso – Hexerei – ließ sich ebenfalls bis zu ihren afrikanischen Wurzeln zurückverfolgen.
»Interessant, dass sie sich da mit einem Police Detective eingelassen hat«, meinte Temple. »Das muss ja ein ziemlicher Kulturschock gewesen sein.«
»Vor allem wenn man bedenkt, wo er herstammt. Er stammt aus dem gleichen alten Charleston, das eine Camille Ashby hervorgebracht hat. Menschen mit einem solchen Stammbaum nehmen sich weder lesbische Liebhaberinnen noch kreolische Ehefrauen. Aber John hat sich nie groß um Tradition geschert. Er war schon lange bevor Mariama in sein Leben getreten ist, das schwarze Schaf der Familie.«
»Ach nee.« Temple stützte das Kinn in eine Hand und beugte sich vor. »Erzähl schon!«
»Mach nicht so ein neugieriges Gesicht«, sagte Ethan. »Es ist nicht einmal annähernd so dekadent wie deine Geschichte.«
»Schade.«
Ethan grinste. »John hat eine Stellung in der Anwaltskanzlei der Familie sausen lassen und ist zur Polizei gegangen. Das hört sich vielleicht nicht an wie eine Riesensache, aber mit seiner Entscheidung hat er gegen eine uralte Tradition verstoßen und gegen alle Erwartungen, die man Zeit seines Lebens in ihn gesetzt hatte. Ich glaube, er und sein Großvater haben kaum ein Wort miteinander geredet, seit er seinen Abschluss an der Polizeiakademie gemacht hat.«
Temple lehnte sich zurück. »Wie kommt es, dass du so viel über ihn weißt? Ist er ein Freund von dir?«
»Genau, ist er.« Lächelnd sah Ethan sie über den Rand seiner Brille hinweg an. »Und außerdem, Darling, sind wir hier in Charleston. Hier kennt jeder jeden.«
Ich sagte zu alledem kein Wort. Ich fand es etwas respektlos, derart intime Details aus Devlins Privatleben durchzudiskutieren. Ich wusste zwar, dass sein Tisch weit genug entfernt stand und dass außerdem so viele Nebengeräusche im Restaurant waren, dass er uns nicht hören konnte, aber trotzdem war mir bei der Unterhaltung unbehaglich zumute. Temple und Ethan hatten offenbar nicht solche Gewissensbisse. Sie waren wie zwei schnatternde Elstern.
»Was ist denn nun mit seiner Frau passiert?«, fragte Temple.
Ethans Blick verdüsterte sich. »Es war ein entsetzlicher Unfall. Ihr Wagen hat ein Geländer durchbrochen und ist in einen Fluss gestürzt. Sie war in dem Fahrzeug eingeklemmt und ist ertrunken.«
Vor meinem inneren Auge sah ich plötzlich Devlins Geister.
»War sie allein?«, hörte ich mich fragen.
»Nein, leider war ihre vierjährige Tochter mit im Wagen. John ist an dem Tod der beiden fast zerbrochen. Er hat sich sechs Monate von der Polizei beurlauben lassen und ist einfach verschwunden. Keiner wusste, wo er war, aber irgendwann gab es Gerüchte, er habe sich in eine Art von Privatsanatorium einweisen lassen.«
»Man darf nicht alles glauben, was man hört«, meinte Temple. »Es gibt der Geschichte allerdings eine pikante Note.«
Ihre Stimmen verklangen, und mit einem Mal war die Luft wie elektrisch aufgeladen. Ich wollte gern glauben, dass ich mir das nur einbildete, doch ich wusste es besser. Devlins Geister waren ganz in der Nähe. Ich konnte sie zwar nicht sehen, doch ich konnte ihre Gegenwart spüren. Vielleicht waren sie draußen im Garten bei dem anderen Totengeist und warteten dort gemeinsam darauf, dass ihre Wirte jene Grenze überschritten, die sie derzeit voneinander trennte – was immer diese Grenze war.
Wenn ich nicht achtgab, warteten sie vielleicht auch auf mich. Ich schob meinen Stuhl zurück und stand auf. »Wenn ihrmich bitte einen Moment entschuldigen würdet? Ich muss mal kurz für kleine Mädchen.«
Ohne in Devlins Richtung zu schauen, bahnte ich mir den Weg durch das voll besetzte Restaurant. In der Damentoilette spritzte ich mir erst einmal kaltes Wasser ins Gesicht, dann betrachtete ich mich eingehend im Spiegel.
Diese Schwärmerei für Devlin musste ein Ende haben. Dadurch, dass ich mich so zu ihm hingezogen fühlte, brachte ich mich in eine gefährliche Lage, aber es war noch nicht zu spät. Noch konnte ich dem Einhalt gebieten. Ich konnte mich in meinem Refugium einigeln, bis er und seine Geister wieder verschwanden. Dafür brauchte ich nur ein bisschen gesunden Menschenverstand und eine Menge Willenskraft.
Normalerweise hatte ich beides.
Ich trocknete mir das Gesicht, straffte die Schultern und verließ die Damentoilette.
Devlin wartete auf mich in dem
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