Totenhauch
treffen.«
»Was für eine Entscheidung?«
»Zwischen den Lebenden und den Toten.«
Ich drehte mich um und blickte auf die Straße, wo Rhapsodyund ihre Freunde immer noch Fußball spielten. Es war ein erstaunlich normaler Anblick.
Essie erhob sich von ihrem Stuhl, nahm meine Hände in die ihren und drückte mir etwas hinein.
Ich blickte hinunter auf den kleinen Stoffbeutel, der mit einem blauen Band zugeschnürt war. »Was ist das?«
»Leg es dir in der Nacht unters Kopfkissen. Vertreibt die bösen Geister.« Sie zog eine kleine Schachtel aus ihrer Schürzentasche, in der etwas drin war, das aussah wie getrocknete Kräuter, und legte sie mir in die andere Hand. »Ewiges Leben. Gut gegen das, was dich quält.«
»Danke.«
Sie machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. »Und jetzt geh. Daheim macht sich wer Sorgen um dich.«
Daheim war zwar niemand, der sich Sorgen hätte machen können, aber ich sagte nichts dazu. Ich setzte mich auf die oberste Treppenstufe und zog meine Stiefel an. Als ich wieder aufstand, warf Essie einen sorgenvollen Blick zum Himmel.
»Mach zu, Kind. Die Sonne geht bald unter.«
ACHTZEHN
Rhapsody und ihre Freunde begleiteten mich zum Friedhof, aber sie wollten nicht weiter als bis zum Eingang mitkommen. Ich ging allein an den schlichten Grabsteinen entlang, blieb an Mariamas und Shanis Gräbern kurz stehen und schaute noch einmal zurück. Rhapsody stand am Straßenrand und starrte mir nach. Ihr Gesicht hatte einen verängstigten Ausdruck, und ich erinnerte mich wieder an das Gespräch, das sie mit Essie geführt und das ich mitangehört hatte.
Jemand is’ hinter diesem Mädchen her. Jemand mit einer Seele, die so schwarz is’ wie die tiefste Nacht. Jemand, der mit den Toten geht.
Eine eisige Kälte erfasste mich, und mir wurde ganz bang ums Herz. Doch im nächsten Moment musste ich über mich schmunzeln, weil ich das, was sie gesagt hatte, so wörtlich nahm. Ich maß der ganzen Sache eine viel zu große Bedeutung bei. Essie konnte mit ihren Wurzeln, ihren Beeren und ihrem Ewigen Leben vielleicht so manches Zipperlein kurieren, doch das hieß nicht, dass sie auch die Gabe des zweiten Gesichts hatte.
Nichtsdestotrotz beschleunigte ich den Schritt, um möglichst weit weg von diesem Friedhof zu sein, wenn die Dämmerung hereinbrach. Noch hing die Sonne über den Baumwipfeln, schickte ihre Strahlen durch das Blattwerk der Eichen wie lange Luftschlangen aus glitzernden Pailletten. Ich hatte noch viel Zeit, doch ich konnte schon jetzt das prickelnde Unbehagenspüren, das mit jeder Sekunde stärker wurde und das immer mit dem Sonnenuntergang kam.
Ich drückte auf den Türöffner am Autoschlüssel, um schon von Weitem die Autotüren zu entriegeln, kletterte die sanfte Böschung hinunter und sprang über den Straßengraben. Doch als ich auf meinen SUV zuging, wurden meine Schritte langsamer, und ich begann, leise vor mich hin zu fluchen.
Der Vorderreifen auf der Fahrerseite hatte einen Platten. Das kam öfter vor auf den Schleichwegen und Schotterstraßen, auf denen ich fuhr, sodass ich immer einen aufgepumpten Ersatzreifen und einen ordnungsgemäß funktionierenden Wagenheber dabeihatte.
Ich unterdrückte meine Ungeduld und den kleinen Anflug von Panik, schleppte die erforderlichen Gerätschaften aus dem Wagen, und mit dem Rücken zum Licht machte ich mich ans Werk.
Die Radmuttern zu lösen war immer das Schwierigste für mich. Jede einzelne kostete mich sehr viel Mühe. Als ich den Wagen endlich aufgebockt und den Reifen heruntergenommen hatte, tauchte die Sonne schon hinter die Baumwipfel.
Irgendwo in den Wäldern hinter mir heulte ein Seetaucher, und das Geräusch war so unheimlich, dass mir ein eisiger Schauer über den Rücken lief.
Da ich mit dem Rücken zu den Bäumen stand, fühlte ich mich ungeschützt und angreifbar, und so schob ich den Ersatzreifen auf den Radbolzen und brachte hastig die Muttern an. Dann ließ ich den Wagen wieder herunter. Zog die Muttern fest. Warf einen Blick über die Schulter.
Alles klar.
Aber ich hörte den Seetaucher wieder, und dieses Mal stieß er einen tremoloartigen Warnruf aus, der laut Papa Unruhe oder Angst signalisierte.
Ich warf alle Gerätschaften hinten auf die Ladefläche des S UV , setzte mich ans Steuer und fuhr auf dem gleichen Weg wieder zurück, auf dem ich gekommen war.
Die Bäume, die die Schotterstraße auf beiden Seiten säumten, wuchsen nach innen und bildeten ein undurchdringliches Zelt aus herabhängendem
Weitere Kostenlose Bücher