Totenhauch
Bruderschaften und Organisationen haben gelernt, wie man einen Egregor durch Zeremonien und Rituale erschafft. Wobei die Gefahr natürlich darin liegt, dass der Egregor mächtiger werden kann als die Summe seiner Einzelteile.«
»So etwas gibt es wirklich?«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich selbst habe noch nie einen gesehen, aber wie ich schon sagte, es ist eine mögliche Erklärung.«
»Sie meinten, es gäbe noch eine andere.«
»Es gibt Menschen, die glauben, dass Schattenwesen nur durch Schwarze Magie heraufbeschworen werden können.«
Sofort dachte ich an Essies Amulett, das ich in meiner Handtasche dabeihatte.
Dr. Shaw beugte sich vor und verschränkte die Arme auf der Schreibtischplatte.
»So leid es mir tut, ich glaube nicht, dass eine dieser Theorien auf das zutrifft, was Sie gesehen haben.«
»Nein? Aber wie ließe es sich dann erklären?«
Er wedelte mit der Hand. »Optische Täuschung.«
Erstaunt sah ich ihn an. »Sie meinen, ich hätte eigentlich gar nichts gesehen?«
»Ist Ihnen der Begriff Pareidolie bekannt? Das ist ein Zustand, in dem das Hirn zufällige Muster von Licht und Schatten als vertrautere Formen interpretiert – wie beispielsweise die eines menschlichen Körpers. Zu dieser unzutreffenden Deutung kommt es zumeist, wenn man Dinge aus den Augenwinkeln unter schlechten Lichtverhältnissen wahrnimmt. Wie beispielsweise in der Dämmerung.«
Ich runzelte die Stirn. »Sie meinen also, ich hätte mir diese Schemen eingebildet?«
»Nein, Sie haben beide Male etwas sehr Reales gesehen. Nur nicht das, was Sie wahrgenommen haben.«
Ich lehnte mich wieder in meinem Stuhl zurück. »Ich muss sagen, ich bin überrascht, dass ausgerechnet von Ihnen eine solche Erklärung kommt.«
Sein Lächeln wirkte müde. »Es schmerzt mich, dass ich sie Ihnen geben muss. Aber von den Hunderten, wenn nicht gar Tausenden von übernatürlichen und paranormalen Ereignissen, die ich über die Jahre studiert habe, sind nur eine Handvoll geblieben, für die es keine wissenschaftliche oder logische Erklärung gibt.«
Ich fragte mich, was er wohl über all die Totengeister denken würde, die ich über die Jahre gesehen hatte.
Ich zog Essies Amulett aus meiner Tasche und schob es über den Schreibtisch. »Haben Sie so etwas schon mal irgendwo gesehen?«
Er nahm den winzigen Beutel und legte ihn auf seine Handfläche, hielt ihn sich an die Nase und roch daran. »Dreck und Zimt«, murmelte er. »In Westafrika nennen sie das Sebeh oder Gris-Gris . Man benutzt es als Schutz gegen böse Geister. Wo haben Sie das her?«
»Von einer Frau, die behauptet, sie sei eine Kräuterheilerin. Ich bin ihr unten in Beaufort County auf dem Chedathy Friedhof begegnet.«
Er blickte auf. »War das bevor Sie das Schattenwesen gesehen haben oder danach?«
»Vorher. Und in ihrem Haus ist mir etwas ganz Seltsames passiert. Ich glaube, sie hat mir irgendetwas in den Tee getan.« Ich zog die Schachtel mit den Kräutern aus der Tasche und gab sie ihm ebenfalls. »Sie nannte dieses Zeug Ewiges Leben .«
»Gibt es schon immer. Die Blätter stammen von einer Pflanze aus der Familie der Gänseblümchen. Es hat eine berauschende Wirkung, wenn man es raucht, deshalb ist das Zeug jetzt illegal in South Carolina.« Er hielt sich die Schachtel an die Nase und atmete tief ein. »Es heißt, es hilft gegen Erkältung. Im Grunde völlig harmlos.«
»Harmlos? Ich bin davon ohnmächtig geworden.«
»Nicht davon, ganz bestimmt nicht. Ich habe den Tee selbst schon getrunken, und das hatte überhaupt keine negativen Auswirkungen. Eigentlich fand ich ihn sogar recht belebend. Eher wie eine Vitamin-B12-Spritze.«
»Dann muss sie irgendetwas anderes in meinen Tee getan haben. Oder es war in den Plätzchen … nur hat sie und ihre Enkelin auch von den Plätzchen gegessen, und wir haben auch alle aus dem gleichen Teekrug getrunken. Ich weiß also nicht, was da passiert ist, aber das Ganze war irgendwie surreal. Wie ein Traum. Ich habe gehört, dass sie ein paar wirklich merkwürdige Dinge über mich gesagt hat.«
Er sah auf, und seine Augen waren wach vor Eifer. »Was für Dinge?«
»Sie hat gesagt, ich sei auf der anderen Seite gewesen, und jetzt wisse meine Seele nicht mehr, wo sie hingehört.«
»Interessant.« Nachdenklich nestelte er an dem Beutel mit dem Gris-Gris . »Hatten Sie schon einmal ein Nahtoderlebnis?«
»Nein.«
»Auch nicht als Kind?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Was hat sie sonst noch gesagt?«
»Sie hat gesagt, dass
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