Totenhaut
zehn war. Das war zwar keine vernünftige Zeit mehr, jemanden anzurufen, doch Jon konnte es sich nicht verkneifen. Er schlug sein Notizbuch auf und ging die Telefonnummern am Anfang durch. Er kam zu der Erkenntnis, dass es nicht angebracht war, eine ältere Frau wie Mrs. Miller, die Mutter des zweiten Opfers aufzuscheuchen, deshalb rief er die Tochter des ersten auf dem Handy an.
Es läutete ein paar Mal, dann wurde abgehoben. Im Hintergrund hörte er die lauten Geräusche einer Bar.
»Lucy hier. Wer spricht?«
»Lucy, hier ist Detective Inspector Spicer. Ich ermittle im Fall –«
»Ich erinnere mich an Sie.«
»Gut. Entschuldigen Sie die späte Störung, aber ich muss Sie etwas fragen. Haben Sie einen Augenblick Zeit?«
»Okay.« Die beiden Silben wurden mit großer Zurückhaltung ausgesprochen.
»Sie haben erwähnt, dass Sie Ihre Mutter zu ein paar Single-Abenden in der Stadt mitgenommen haben.«
»Ja, das stimmt.«
»Waren Sie mit ihr auch in einem Lokal in der Nähe des Bahnhofs Piccadilly? Coach and Horses heißt es.«
»Ja – das war vielleicht ein Reinfall.«
»Ein Reinfall? Hat sich jemand an sie rangemacht?«
»Nein. Also niemand, auf den sie Wert gelegt hätte. Da war so ein Typ, der hat ihr seine Karte gegeben. Aber der war so krank, dass sie mir versprechen musste, ihn nie anzurufen.«
»Warum sagen Sie, er war krank?«
»Es war seine ganze Art. Ich wollte nicht, dass meine Mutter auf seiner Liste billiger Betthäschen für eine Nacht landet.«
»Wie sah er aus?«
»Für mich war er der Fette Elvis.«
Jon sah hinüber zu Pete Grays Schlafzimmervorhängen und dem blauen Licht, das dahinter flackerte.
Es war schon fast elf, als er die Haustür wieder aufschloss. Zu seiner Überraschung war Alice noch wach. Sie saß im Wohnzimmer und las eine Zeitschrift, während der Fernseher leise lief.
»Hallo, Liebes. Ich hol mir nur schnell ein Glas Wasser.«
Er kraulte Punch zwischen den Ohren, und als er über den kurzen Flur zur Küche ging, fiel ihm auf, dass der Staubsauger wieder im Schrank unter der Treppe stand.
Kein Stäubchen lag auf dem Teppich. In der Küche holte er ein Glas aus dem Schrank und hatte es schon zur Hälfte gefüllte, als er bemerkte, dass alle Teller und Tassen gewaschen und weggeräumt waren.
Er ging ins Wohnzimmer und setzte sich in seinen Lehnstuhl. »Jetzt hast du alles aufgeräumt. Das wollte ich doch tun.«
Alice seufzte. »Und wann?« Ihre Stimme war ausdruckslos, und sie sah ihn nicht an.
»Am Abend. Jetzt.«
»Ich hatte keine Lust mehr zu warten.« Sie blickte auf, und er sah, dass ihre Lippen dünn und blutleer waren.
Die Alarmglocke, die schon vorhin kurz angeschlagen hatte, klingelte wieder, diesmal vernehmlicher. »Du hättest um diese Zeit angefangen staubzusaugen? Da bin ich normalerweise schon im Bett.«
»Dann halt morgen früh.«
»Oder vielleicht auch nie, verdammt noch mal!« Sie knallte die Zeitschrift auf den Tisch.
»Wo kommt das denn her?«, fragte Jon, den ihre Wut völlig unvorbereitet traf. Aus dem Augenwinkel sah er Punch aus dem Zimmer schleichen, und er wünschte, er könne dasselbe tun.
Mühsam erhob sie sich vom Sofa. »Wo das herkommt? Mein Gott, manchmal bist du wirklich ein Trottel, Jon Spicer.«
Er sah sie an und dachte daran, wie seine Ermittlung ins Stocken geraten war. McCloughlin wurde von Tag zu Tag nervöser, und die Art, wie er durch die Einsatzzentrale streifte, versetzte alle in Hektik. »Scheiße, Ali, ich kann doch nicht Gedanken lesen. Ich habe nicht abgewaschen. Ist das der Grund?«
Sie funkelte ihn noch einen Augenblick an. Als ihr klar wurde, dass mehr von ihm nicht zu erwarten war, stieß sie in ihrer Frustration einen Schrei aus, schwang ihren Bauch herum und watschelte hinaus auf den Flur.
Jon blieb noch ein paar Sekunden sitzen, und Ärger brandete in ihm auf. »Wir versuchen, einen Mörder zu fassen, bevor er noch jemandem die Haut abzieht, Ali.« Er stand auf und ging zur Tür. »Du weißt, wie das in meinem Job ist. Mörder halten sich normalerweise nicht an Bürozeiten.«
Sich mit einer Hand am Geländer festklammernd, hatte sie schon die Hälfte der Treppe hinter sich gebracht. Er sah, wie sie nach Atem rang und ihre Schultern dabei auf und ab gingen.
»Du wirst demnächst auch Vater. Ich quäle mich hier ab. Ich quäle mich mit dieser Schwangerschaft, quäle mich mit meiner Arbeit, quäle mich, dass es hier sauber ist, wenn das Baby kommt.« Sie drehte sich um und zeigte auf ihn hinunter.
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