Totenhaut
dunkelbraun von getrocknetem Blut. »Tut was weh?«
»Nein«, flüsterte der Patient.
O’Connor drehte das Wattestäbchen um und wiederholte den Vorgang. Noch mehr getrocknetes Blut löste sich von der Nase.
»Jetzt versuchen Sie mal ganz vorsichtig durch die Nase einzuatmen.«
Der Patient gehorchte, und seine Augen weiteten sich.
»Es geht.«
»Na, vielen Dank, dass Sie das so überrascht«, meinte O’Connor und stand auf.
»Tut mir leid.« Der Patient versuchte zu lächeln.
Der Arzt schloss seine Aktentasche. »In ein paar Tagen komme ich zum Ziehen der Fäden. In der Zwischenzeit nehmen Sie weiter das Antibiotikum, und kommen Sie ja nicht auf die Idee zu zupfen.«
Der Patient nickte kleinlaut. »Herr Doktor, und was ist mit meinen anderen Pillen?«
»Auf keinen Fall, tut mir leid. Nicht, so lange Sie das Antibiotikum nehmen. Keine Angst, bis dahin werden sich keine sichtbaren Unterschiede manifestieren. Es dauert nicht mehr lange, dann können Sie sie wieder nehmen.«
24
D
er Anruf ging kurz vor achtzehn Uhr in der Einsatzzentrale ein. Kaum beherrschte Hysterie zerriss beinahe jedes Wort, das die Anruferin von sich gab. »Wir haben gerade die Lokalzeitung gesehen. Meine Tochter ist nicht hier. Sie ist nicht hier. In unserer Diele liegt Post.«
»Langsam, bitte, Madam. Was liegt in Ihrer Diele?«
»Post. Wir waren auf Lanzarote, und sie ist nicht da.«
»Sagen Sie mir bitte Ihren Namen und Ihre Adresse?«
»Debbie Young. Sie heißt Tyler. Sie hat schulterlanges, braunes Haar.« Sie konnte nur noch schluchzen. Ein Mann übernahm den Hörer, seine Stimme war völlig ausdruckslos. »Wir wohnen in der Rowfield Road 61 in Stretford.«
»Danke, Sir. War das Ihre Frau, die gerade gesprochen hat?«
»Ja.«
»Und Sie sagen, Sie kommen gerade aus dem Urlaub zurück?«
»Wir waren während der letzten zehn Tage auf Lanzarote. Tyler hätte eigentlich mitkommen sollen, aber es gab Streit, und sie ist zu Hause geblieben. Sie ist achtzehn. Sie ist ungefähr einssiebzig groß.«
»Hat sie irgendwelche besonderen Kennzeichen, die Sie mir nennen können?«
»Piercings im Ohr, im rechten Ohr. Und eine Tätowierung.«
»Was für eine Tätowierung, Sir?«
Er schwieg, die nächsten Worte musste er sich richtiggehend abringen. »Eine Betty Boop. Nahe an der Hüfte.«
»Confit von der Entenkeule mit gegrillter würziger Feige?«, fragte der Kellner. Von den beiden Tellern in seinen Händen rankte sich Dampf zur Raumdecke.
»Das ist für meine Frau.« Der Mann deutete über das makellose weiße Leinen hinweg.
»Und geschmortes Lamm mit Paprikapüree für Sie«, fuhr der Kellner fort und setzte den anderen Teller mit einem Lächeln ab. »Guten Appetit.«
Er verließ den Tisch im Rückwärtsgang und überließ das Paar, dessen Augen voll Vorfreude strahlten, der Begutachtung seines Essens.
»Das riecht phantastisch«, meinte die Frau, nahm ihre Gabel zur Hand und spießte eine Feige auf. Sie steckte sie in den Mund und biss hinein. Sich ganz dem Genuss hingebend senkte sie ihre Wimpern.
»Gut?«, fragte der Mann und löste einen Streifen Fleisch von dem Stück auf seinem Teller.
Sie nickte, lehnte sich zurück und ließ ihren Blick über das bewegte Wasser des Manchester-Schiffskanals zu den eindrucksvollen silbernen Kanten des Imperial War Museum North schweifen. »Weißt du, von hier«, sagte sie und tupfte sich den Mundwinkel mit der Serviette ab, »versteht man erst die wahre Bedeutung von Daniel Libeskinds Konstruktion. Die Erdscherbe, die Luftscherbe und die Wasserscherbe, eins greift ins andere. Die drei verschiedenen Schauplätze der Konflikte des zwanzigsten Jahrhunderts.«
Ihr Mann trank einen Schluck aus seinem Glas Cabernet Sauvignon und nickte. »Na, ich nehme doch an, er bekommt die Aufträge für die prestigeträchtigsten Bauprojekte der Welt nicht von ungefähr.«
Die Kulisse und die Atmosphäre genießend, ließ sie ihren Blick wieder zurück über den Kanal gleiten. Plötzlich blieb er an einem großen, bleichen Gegenstand hängen, der im Wasser direkt unter ihr trieb. Obenauf saß eine Möwe und zerrte mit dem Schnabel etwas aus der Augenhöhle des grauenhaft aufgequollenen Gesichts einer Leiche.
Jon stand reglos da und starrte auf die Leiche von Tyler Young. Sie hatte die Schule mit sechzehn beendet, hatte die verschiedensten McJobs ausprobiert und sich gelangweilt. Sie war ruhelos und überzeugt gewesen, dass die Welt mehr zu bieten haben müsse. Als sie noch jünger gewesen
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