Totenhaut
eine Kamera wäre.«
Ungefähr fünf Minuten später erschien der Pathologe des Innenministeriums.
»Flott unterwegs«, bemerkte Jon, als der Gerichtsmediziner seine langen Glieder in einen weißen Anzug bugsierte.
»Der Anruf kam, als ich schon auf dem Weg zur Arbeit war. Es war einfacher, direkt hierherzukommen.« Er zog sich weiße Überschuhe an und ging, Fußplatten vor sich auslegend, zur Leiche.
Während Jon darauf wartete, dass der Pathologe seine erste Untersuchung abschloss, fuhr der Bus der Spurensicherung auf den Parkplatz des Wohnungsamts. Mehrere Polizisten kamen mit Stangen und einem weißen Plastikschutzdach zum Tatort. Kaum hatte der Pathologe die Leiche ausreichend begutachtet, fragte Jon ihn bereits:
»Was schätzen Sie?«
»Ja, also«, der Gerichtsmediziner stand auf und ließ dabei ein lautes Knacksen seines Kniegelenks hören, »sie hat den größten Teil der Nacht hier gelegen. Es gab heute Morgen starken Tau und ein bisschen Nebel. Ich weiß natürlich nicht, wann der Taupunkt war – mir ist nur aufgefallen, dass mein Wagen mit einer leichten Schicht überzogen war, als ich gestern Abend gegen elf noch mal mit dem Hund rausging.« Er sah in die Sonne, die noch immer tief am Himmel stand. »Die der Sonne abgewandte Seite der Leiche ist völlig durchnässt, das Haar genauso.«
»Vermutlicher Todeszeitpunkt?«
»Die Totenstarre ist schon ziemlich weit fortgeschritten. Die Gesichtsmuskeln sind steif, aber ich müsste noch klären, ob dabei der Umstand, dass sie ihre Hautschicht verloren haben, eine Rolle spielt. Aber abgesehen davon, sind ihre Extremitäten schon ziemlich starr. Dass sie die ganze Nacht hier draußen war, hat das Einsetzen der Totenstarre wahrscheinlich verzögert, aber ich würde sagen, sie wurde vor gut zwölf Stunden getötet, vielleicht mehr.«
»Und das Fehlen von Blut um die Leiche herum. Ist sie hierhergebracht worden?«
»Wie beim letzten Mal. Bei einer Sache bin ich mir nicht sicher, und zwar, was die Beschädigung des Bauchs betrifft. Die Wunden sind sehr grob.«
»Hundebisse«, sagte Jon.
Der Pathologe sah ihn bestürzt an, und Jon freute sich, seinen Schild professioneller Sachlichkeit durchbrochen zu haben.
»Was denken Sie jetzt über die medizinischen Fachkenntnisse dieses Kerls?«, fragte Jon, die Hände in den Taschen.
Der Arzt sah ihn an, Bedauern zog seine Augenwinkel nach unten. »Um ein Gesicht derart vollständig zu entfernen braucht man eine ganze Menge Zeit und Geschicklichkeit.« Er ging in die Hocke und zeigte mit einem Finger auf den Haaransatz des Opfers. »Er hat einen Hautlappen am Haaransatz entlang gebildet, indem er von einem Ohr zum anderen geschnitten hat. Dann hat er die Haut abgezogen – an der Stirn ist das nicht besonders schwierig, weil das perikraniale Fleisch ziemlich lose ist, und es gibt nur den Frontalismuskel, auf den Sie aufpassen müssen.« Er deutete auf seine eigene Stirn und zog die Augenbrauen hoch. »Das ist der, mit dem Sie das hier tun können. Als Nächstes, denke ich mir, hat er Einschnitte an beiden Seiten des Gesichts und der Kieferlinie entlang gemacht. Und da wird’s kompliziert. Die Muskeln in Ihrem Körper sind durch Sehnen mit Ihren Knochen verbunden. Ihre Gesichtsmuskeln allerdings unterscheiden sich von allen anderen Muskeln dadurch, dass sie direkt mit anderen Muskeln oder der Haut verbunden sind. Deshalb ist das menschliche Gesicht auch zu einer so erstaunlichen Bandbreite von Ausdrücken fähig. Die Bewegung eines Muskels wirkt sich auf den benachbarten Muskel aus – eine Art Welleneffekt, wenn Sie so wollen. Wie der Täter die Haut von den Augenmuskeln – das sind die rund ums Auge herum – getrennt hat, ist nahezu perfekt.« Er zeigte auf einen freiliegenden Augapfel. »Nur ein winziger Schnitt hier, dann hat er am Gesicht entlang geschnitten. Die Muskeln um die Nase herum – ich vergesse immer, wie die heißen, Levator und Compressor naris oder so – hat er dabei völlig intakt gelassen. Dann ist er zum Mund gekommen. Er hat ihr die Lippen entfernt, mit dem Ergebnis, dass sie jetzt aussieht, als würde sie in alle Ewigkeit grinsen. Vielleicht wollte er ja genau das erreichen.«
»Dann hatte er also irgendeine Art von formaler Ausbildung?«, fragte Jon. Er war erleichtert, sich von der verstümmelten Leiche abwenden zu können.
»Er besitzt auf jeden Fall chirurgische Kenntnisse, da besteht gar kein Zweifel. Der Schlüssel liegt darin, eine Ebene zu finden – die Schicht zwischen der
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