Totenhaut
versuchte herauszufinden, mit welchem Bus sie in ihr möbliertes Zimmer kommen könnte.
Ein halbe Stunde später setzte ein Bus sie am oberen Ende ihrer Straße ab. Mit einem Seufzer der Erleichterung steckte sie den Schlüssel ins Schloss der Haustür und wäre beinahe an dem kleinen Stapel Post mit ihrem Namen darauf vorbeigegangen.
Sie fürchtete, es seien lauter Rechnungen, und als sie ihr Zimmer betrat, warf sie die Umschläge gleich auf das Bett und ging schnurstracks nach oben, um zu duschen. Eine Viertelstunde später setzte sie sich im Morgenmantel und mit einem Handtuch um den Kopf hin und öffnete den ersten Umschlag. Er war handgeschrieben. Eine Karte von ihren Kollegen im Salon, die ihr alles Gute in ihrem neuen Heim wünschten. Als sie die Unterschriften betrachtete, traten ihr Tränen in die Augen, und einen Augenblick lang vergaß sie ihre Kopfschmerzen. Dafür brachten die nächsten Briefe sie umso heftiger wieder zurück. Zahlungsformulare für Strom, Gas und Wasser. Die Empfehlung, per Lastschrift zu zahlen, und die Aussicht auf fünf Pfund Rabatt, wenn sie es tat.
Fiona warf einen Blick auf ihr Portemonnaie – sie hatte kaum genug Geld gehabt, um die Busfahrt nach Hause zu bezahlen.
Steifbeinig stand sie auf und öffnete den Schrank über der Spüle. In der Ginflasche befand sich noch ein etwa zwei Finger breiter Rest. Sie kippte ihn in ein Glas und setzte sich. Als sie an die letzten Jahre ihrer Ehe dachte, war sie erneut den Tränen nah.
Jeffs Attacken auf sie waren immer schlimmer geworden, und sie hatte begonnen, hin und wieder einen Schluck Gin zu trinken, wenn er im Pub war. War Furcht oder Einsamkeit der Auslöser gewesen? Such’s dir aus, dachte sie und prostete sich stumm zu.
Aus dem Hin-und-Wieder war ein Immer-Öfter geworden, und die Schlucke wurden immer größer. Das Geld für neue Flaschen aufzutreiben, wurde auch immer schwieriger. Sie hatte Melvyn überredet, ihr einen Teil ihres Gehaltes bar auszuzahlen. Ihre Vorräte versteckte sie unter der Spüle oder im großen Bräter. Stellen, an denen er nie suchen würde.
Sie hatte niemals gewagt, darüber nachzudenken, wie sehr sie sich mit der Zeit an ihren Gin gewöhnt hatte. Leere Flaschen wurden in der Handtasche aus dem Haus geschmuggelt, in die Mülleimer von Supermärkten oder sogar in Hecken geworfen, wenn die Straße gerade leer war.
Fiona betrachtete ihr Glas, und eine Woge des Selbstmitleids schlug über ihr zusammen. Weiß Gott, wenn sich hier jemand sein Glas verdient hat, dann ich. Deshalb habe ich aber noch lange kein Problem damit, dachte sie und stürzte den Rest hinunter.
20
W
ieder war Rick schon vor ihm da, und Jon spürte einen leichten Anflug von Ärger. »Wieder mit dem ersten Spatzentschilp aufgestanden.«
»Woher kommt diese Redewendung?«
Jon überlegte einen Augenblick. »Das hat mein Großvater immer gesagt. Muss was Irisches sein.«
»Stimmt, du hast ja gesagt, dass deine Familie ursprünglich aus Galway kommt.«
»Aus einem kleinen Fischerdorf namens Roundstone. Warst du schon mal an der irischen Westküste?«
Rick schüttelte den Kopf.
»Solltest du mal hinfahren. Wenn das Wetter mitspielt, ist das das schönste Fleckchen Erde, das es gibt.«
»Und liegt dieser Beruf in der Familie?«
Jon lachte. »Nein, ich bin der Erste meiner Zunft. Mein Ururgroßvater ist mit seinen zwei Brüdern hergekommen. Sie haben alle als Erdarbeiter beim Bau des Manchester-Schiffskanals geschuftet. Und später auch mein Urgroßvater, nur hat er sein Einkommen noch mit was anderem aufgebessert.«
»Ach ja? Womit denn?«
Jon konnte den Stolz nicht ganz aus seiner Stimme verbannen. »Er war Meister im Faustkampf ohne Handschuhe. Damit hat er so viel verdient, dass er die Familie aus dem Slum in Little Ireland holen konnte.«
Rick grinste. »Also, das erklärt dann ja ein paar Dinge.«
Jon spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, als ihm klar wurde, dass Rick auf den Zusammenstoß vom vergangenen Abend anspielte. »Damals war Boxen ohne Handschuhe eine große Sache. Er war eine richtige Berühmtheit. Tut aber jetzt nichts zur Sache. Was hast du denn da?«
»Das Band aus dem Novotel. Die Rezeptionistin hatte es schon fix und fertig in einem Umschlag, die gute Seele.«
»Hast du es dir schon angeschaut?«
»So früh war ich jetzt auch wieder nicht hier.« Er stand auf. »Wollen wir?«
Sie gingen in den Nebenraum, in dem ein Videorekorder stand. Jon öffnete sofort ein Fenster, nahm den mit
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