Totenklage
Stacey Edwards macht. Sie macht sich auch tatsächlich Sorgen, will es aber nicht klar und deutlich aussprechen.
» Bryony, Sie müssen mir jetzt Folgendes sagen: Sie sorgen sich um Stacey Edwards’ Wohlergehen und bestehen darauf, dass wir ihre Wohnung betreten. Und zwar klar und deutlich.«
Sie überlegt einen Augenblick lang, dann sagt sie es klar und deutlich. Ich halte Jane das Telefon hin, sodass wir beide hören, wie sie es sagt. Ich bedanke mich bei Bryony und lege auf.
Jane nickt. » Ich muss nur noch schnell Jackson informieren.« Was sie auch tut. Er ist mit unserem Vorgehen einverstanden und bietet uns sogar Verstärkung an. Jane hebt die Augenbrauen. Verstärkung bedeutet, dass ein paar uniformierte Gorillas die Tür eintreten – wenn wir das wollen.
» Ich komme schon klar«, sage ich.
Jane legt auf.
» Glaube ich jedenfalls«, füge ich hinzu.
Auf einem asphaltierten Bereich hinter dem Haus steht ein windschiefer Picknicktisch mit ausklappbaren Sitzbänken. Wir schleifen ihn unter das Fenster, und ich ertappe Jane dabei, wie sie anschließend ihre Hände inspiziert und sich wohl fragt, wo sie sie jetzt waschen kann. Sie ist ja nicht diejenige, die sich gleich durch ein Toilettenfenster zwängen wird.
Ich steige auf den Tisch, der ein bisschen wackelt. Meine Auffassung von lässiger Kleidung besteht aus einem weiten grauen Baumwollrock, flachen Schuhen und einem langärmligen Top. Da ich mir nicht vorstellen kann, dass der Rock und ich gleichzeitig durch das Fenster passen, ziehe ich ihn aus. Jane nimmt ihn mir ab und weist mich darauf hin, dass wir jederzeit Verstärkung rufen können. Aber dafür ist es zu spät. Eine Frau, die halbnackt auf einem klapprigen Picknicktisch unter einem Klofenster steht, hat nicht mehr allzu viel Würde zu verlieren.
Ich öffne das Fenster so weit wie möglich und stecke den Kopf und die Schultern hindurch. Im Raum dahinter befinden sich eine Toilette, ein kleines Waschbecken mit Spiegel darüber und anderer Kram. Wahrscheinlich gibt es eine Spezialtechnik, was das Einsteigen durch Toilettenfenster betrifft, doch die ist mir leider nicht geläufig. Ich strample mit den Beinen und drücke mit den Armen, bis ich mit dem Bauch auf der Fensteröffnung balanciere. Ich sehe mein rotes Gesicht, das sich in der Milchglasscheibe spiegelt, und Janes Silhouette dahinter.
Ich strample weiter. Meine Hüfte reibt schmerzhaft gegen den Fensterrahmen, und plötzlich habe ich Angst, dass ich das Fensterbrett loslassen und mit dem Kopf voraus in den Raum stürzen könnte. Was nicht passiert. Irgendwie schaffe ich es, mich ohne größere Verletzungen durchs Fenster zu zwängen, und bin in der Wohnung. Die Oberseite meiner Schenkel ist mit schmerzhaften roten Kratzspuren bedeckt. Jane schiebt meinen Rock durch das Fenster, und ich ziehe ihn an. Mein Top ist mit Staub und schwarzen Schimmelflecken bedeckt, und meine Haare starren vor Schmutz. Nun wird mich Jane ganz bestimmt nicht mehr küssen wollen.
Ich wasche mir die Hände und öffne die Toilettentür, dann entriegle ich die Hintertür, damit Jane ebenfalls die Wohnung betreten kann.
Als Erstes nehmen wir uns das Wohnzimmer vor. Nichts. Nichts außer ein paar Nadeln, Alufolie, einer Kerze und Streichhölzern. Eine vertrocknete Zitronenhälfte. Die Folie ist voll Kerzenruß. Jane und ich tauschen vielsagende Blicke aus, aber die Drogen interessieren uns nicht.
Dann das Schlafzimmer. Weiße Wände und nuttige rote Vorhänge. Eine große lila Bettdecke. Ein Spiegel. Und Stacey Edwards. Ihre Arme wurden mit einem Kabelbinder hinter ihrem Rücken gefesselt. Auf ihrem Mund klebt Isolierband. Kein Puls. Kein Atem. Ihre Haut hat Raumtemperatur. Der Ausdruck in ihrem Gesicht ist der völliger Ausdruckslosigkeit. Keine Angst. Keine Wut. Keine Schmerzen. Keine Liebe. Keine Hoffnung.
Jane verlässt den Raum, um zu telefonieren. Jetzt brauchen wir Verstärkung. Jetzt brauchen wir alle Verstärkung, die wir kriegen können.
Während Jane telefoniert, setze ich mich aufs Bett und lege eine Hand auf Edwards’ Bauch. Sie ist vollständig bekleidet, und die Kleidung sieht keineswegs ungeordnet aus. Keine Ahnung, was das bedeutet. Vielleicht bedeutet es, dass sie nicht vergewaltigt wurde, bevor man sie ermordet hat.
Aus den hundert verschiedenen Gedanken in meinem Kopf sticht einer heraus: Jane Alexander und Jim Davis wären gestern Abend gleich nach der Einsatzbesprechung losgefahren, um mit Stacey Edwards zu reden. Und zwar ohne meine
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