Totenklage
Rasen inspiziert, meine Küchenschubladen auf den Kopf stellt und die Kühlschranktür aufreißt, um eine Inventur der Lebensmittelvorräte vorzunehmen. » Klasse«, sagt er dann, was aus seinem Mund eigentlich gar nichts heißt. Es ist mehr so eine Art artikuliertes Satzzeichen.
» Willst du schon mal deine Sachen holen, Schatz? Ich häng den für dich auf, ja?« Er hängt den Wohnzimmerspiegel wieder an seinen Haken an der Wand, nicht ohne zuvor an den blauen Klebespuren gekratzt zu haben.
Man könnte meinen Dad leicht für aufdringlich und rechthaberisch halten. Ist er aber nicht. Nicht im Geringsten. Wenn ich ihm sagen würde, dass es mir ganz gut gefällt, wenn der Spiegel vor dem Kamin steht, damit man seine Beine von den Knöcheln bis zum Knie betrachten kann, würde er » Da hast du recht, Schatz« sagen, den Spiegel wieder abnehmen und genau an seinen ursprünglichen Platz stellen, exakt auf die Druckstelle, die er auf dem Teppich hinterlassen hat.
Ich suche meine Sachen zusammen – Nachtwäsche, Zahnbürste, Klamotten, Krimskrams, Handy. Ich zittere immer noch, aber nur innerlich. Dann lege ich Make-up auf. Rouge und etwas auf Augen und Lippen. Mich täuscht es nicht, doch das ist ja auch nicht der Sinn der Sache.
Als ich wieder runtergehe, wartet Dad schon im Flur auf mich.
» Was ist mit deinem Gesicht? Sieht so angeschwollen aus.«
Er legt eine Hand auf mein Kinn. Nicht um es festzuhalten, sondern um es ruhigzustellen.
» Ich war beim Zahnarzt und hab Spritzen bekommen. Gestern war noch alles okay, aber heute tut’s ziemlich weh.«
Er lässt die Hand ganz langsam sinken, als wäre er ein Archäologe, der gerade einen etwas unerwarteten Fund gemacht hat. » Verdammte Zahnärzte«, sagt er und ist schon dabei, überall das Licht auszuschalten. Er beobachtet mich, wie ich abschließe, dann führt er mich zum Auto. Dabei erzählt er mir alles über die aktuelle häusliche Situation. Ant und Kay sind zu Hause. Kay will früh ins Bett, weil sie gestern Nacht ziemlich lange auf einer Party war. Mam hat bereits gekocht, und sie haben schon gegessen, » aber vom Mittagessen ist noch eine schöne Scheibe Rindfleisch übrig, und ich hab deiner Mam gesagt, sie soll ein paar Kartoffeln für dich in den Ofen schmeißen. Mein Leibgericht. Nur mit ein bisschen Butter und Salz. Lecker!«
Er hat die Gabe, immer das als Leibgericht zu haben, was es gerade gibt. Daher hat Dad sogar mehrere Lieblingsgerichte täglich.
Wir brausen mit dem Range Rover durch die stillen Straßen. Sein Auto ist breiter, leiser, höher und plüschiger als meines. Meine Angst ist im Haus hinter mir eingesperrt und kann mir nicht folgen. Ich glaube, ich habe noch nie Angst gehabt, wenn Dad bei mir war.
Als wir zu Hause ankommen, hat meine Mutter schon zwei Teller auf den Tisch gestellt. Fleisch, gebackene Kartoffeln. Meerrettich. Senf. Und ein großer Haufen Krautsalat. » Großartig!« Dads überraschte Freude ist nicht gespielt, obwohl es eigentlich undenkbar wäre, dass Mam mir ein Abendessen hinstellt und Dad hungrig danebensitzen lässt. Dazu trinken wir Wasser.
Ein, zwei Stunden lang sind wir eine richtige Familie. Ant hat es gern, wenn alle zusammenkommen, und hängt einfach rum. Offenbar gibt es Neuigkeiten von der Eigener-Fernseher-Front, doch ich kann nicht rausfinden, worum es sich genau handelt, weil jeder gleichzeitig redet und ich nur zwei Ohren habe.
Sogar Kay gesellt sich für eine Weile zu uns. Sie bettelt Dad um ein halbes Glas Wein an. Mam ist strikt dagegen – » an einem Sonntag!« –, aber sie setzt sich trotzdem durch: Dad schenkt ihr schnell eines ein, als Mam nicht aufpasst. Kay ist für ihre Verhältnisse recht leger gekleidet. Leggings und ein schwarzes, mit Pailletten besetztes Tanktop. Sie ist barfuß, trägt eine lange Silberhalskette, aber keine Ohrringe und sieht wie immer blendend aus. Sie hat lange Gliedmaßen, seidige Haut und ist absolut photogen. Eigentlich ist sie gerne mit uns zusammen, doch der Teenager in ihr rebelliert naturgemäß gegen alle Familienaktivitäten, daher sitzt sie etwas abseits, hört mehr zu, als dass sie spricht, und bringt mit dem Finger den Rand ihres Glases zum Singen.
Ich habe ebenfalls nichts gegen Familienaktivitäten. Familien sind schon eine komische Sache. Irgendwie haben sich Dads und Mams Gene so verbunden, dass eine überintellektuelle, eigenbrötlerische Kuriosität wie ich dabei herauskam, und trotzdem vertragen wir uns alle sehr gut. Wir lieben uns. Wir
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