Totenkult
Untergewicht sei es dann wohl der Kreislauf gewesen. Sie solle endlich mehr essen. Und ihr Leben habe sie ihrem Nachbarn zu verdanken. Einem Professor an der Universität in Salzburg. Er hatte sie im Wasser liegen sehen und sofort die Rettung alarmiert.
Der Aufzug blieb mit einem Ruck stehen. Marie trat auf den Gang hinaus. Die kühle Luft, die sie traf, schien direkt aus Rolands Büro zu kommen. Er hatte sie in der Woche im Krankenhaus genau zweimal besucht. Gestern war er zu seiner Präsentation nach Rom geflogen. Sie glaubte eigentlich nicht, dass Roland sie verlassen würde. Aber irgendwie hatte sie ein ungutes Gefühl. Vielleicht war dies die letzte Gelegenheit, sein Büro zu durchsuchen und Kopien von Konten und Geldanlagen zu machen.
Marie ging den langen Gang entlang. Die Gumminoppen ihrer Wildledermokassins quietschten leise auf dem weißgrauen Marmor. Das Gründerzeithaus im Andräviertel war erst vor zwei Jahren generalsaniert worden. Luxussaniert, wie Roland es nannte. Natürlich hatte er sich das Dachgeschoss für seine Geschäftsräume gesichert. An der Wand neben der hohen Doppelflügeltür hing nur ein Glasschild. Darauf stand in moderner Schrift »Austria Immo Development«.
Marie drückte die Tür auf und betrat den Empfangsbereich. An den hohen Wänden hingen abstrakte Gemälde, das neue Fischgrätparkett spiegelte. Eine rote Ledergarnitur und ein schwarzer Schreibtisch in der Mitte des Zimmers waren die einzigen Möbel. Hinter dem Schreibtisch saß die Sekretärin und tippte auf ihrer Computertastatur. Vor ihr lagen in ordentlichen Stapeln die bereits fertigen Schriftstücke. Bei Maries Eintreten wandte sie das Gesicht zur Tür und zog die Ohrstöpsel heraus.
»Guten Morgen, Frau Aschenbach …?«
Mittelscheitel, lange schwarze Haare und große dunkle Augen gaben ihr das Aussehen einer italienischen Madonna. Die Sekretärin stand auf. Jessica hieß sie, erinnerte sich Marie. Sie trug ein graues Leinenkleid, das ihre schlanke Figur zur Geltung brachte. Gab es eigentlich noch Sekretärinnen über fünfundzwanzig?
»Hallo, Jessica.« Marie ging auf den Schreibtisch zu und stellte ihre Hermès-Handtasche auf die fertige Korrespondenz. »Ich wollte die Gästeliste abholen.«
Jessica zog ihre wie Rabenflügel gezeichneten Brauen hoch.
»Mein Mann hat Ihnen doch sicher gesagt, dass ich Adressen für die Party in St. Gilgen brauche?«
»N-nein.« Jessicas Blick huschte über ihren Schreibtisch, als suchte sie dort den Grund für ihr Versäumnis. »Nein, der Chef hat mir leider keinen Auftrag gegeben, also … tut mir leid.«
Marie seufzte vernehmlich, um damit Ärger, aber auch Nachsicht für die Unzuverlässigkeit der Sekretärin zum Ausdruck zu bringen. »Na gut, Jessica, macht nichts.« Sie zog ihre Handtasche vom Schreibtisch. Ein paar Briefe segelten zu Boden, Geschäftspost, wie Marie sich mit einem schnellen Blick überzeugte. Sie konnte den Schriftzug der »Austria Immo Development« erkennen. Darunter stand, etwas kleiner, »Make your dreams come true«. Jessica zog die Luft ein. Vor zehn Jahren hatte Marie selbst in Rolands Vorzimmer gesessen. »Zum Glück hab ich gerade Zeit. Ich schau selber, wen wir einladen.« Sie drehte sich um und ging schnell auf die Tür neben der roten Sitzgarnitur zu.
»Moment … Frau Aschenbach?« Jessica musste erst um ihren Schreibtisch herumgehen. »Weiß der Chef, dass Sie hier sind?« Ihre hohen Sandalen klapperten über das Parkett.
Marie, die Hand schon auf der Messingklinke, wandte sich um. »Jessica?« Ihre Stimme war jetzt ein wenig ungeduldig. »Machen Sie einfach Ihre Arbeit, Mädchen, ja?« Sie deutete mit dem Kinn zu der Unordnung auf dem Schreibtisch, die sie selbst verursacht hatte. »Ich denke, Sie haben genug zu tun.« Damit verschwand sie in Rolands Büro, ehe Jessica ihr folgen konnte.
Roland Aschenbach hatte das Dachgeschoss nicht umsonst für seine Geschäftsräume gewählt. Der Blick hinter den hohen Altbaufenstern reichte über die Dächer des Andräviertels bis zum Mönchsberg und zum Schloss Mönchstein hinauf. Dahinter lag breit die Festung. Ausländischen Kunden konnte man fast kein schöneres Panorama bieten.
Gegenüber der Fensterfront bedeckten die Pläne eines Prestigeobjekts die halbe Wand. Die »Arlberg Mountain Lodge« war eine Ansammlung neu errichteter Chalets rund um ein Luxushotel. Das einstige »Haus Alpenblick« war in finanzielle Schwierigkeiten geraten und die Hausbank froh gewesen, als Roland die Kredite
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