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Totenkult

Totenkult

Titel: Totenkult Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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Ordner war erst vor einer Woche angelegt worden. Und er war noch vollständig. Während sie sich immer mehr in seinen Inhalt vertiefte, begriff sie, was ihr da in die Hände gefallen war. Warum hatte Roland ihr nichts davon erzählt? Weil sie in seiner Zukunft nicht mehr vorkam, gab Marie sich selbst die Antwort. Seltsamerweise beruhigte sie diese Gewissheit, und ihr Kopf wurde klar. Jetzt ging es nur noch um sie selbst. Am Horizont ihrer Gedanken tauchte ein Plan auf und nahm langsam Gestalt an. Roland, der Schuft, hatte doch tatsächlich versucht, ein neues lukratives Geschäft und den damit verbundenen Gewinn zu verheimlichen. Nun war schnelles Handeln gefragt. Am Ende wurde Roland seine Geldgier doch noch zum Verhängnis.
    Marie lehnte sich zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und legte ihre Füße in den staubigen Mokassins auf die Glasplatte des Schreibtischs. Von ihrem Platz aus hatte man die Pläne der prächtigen »Arlberg Mountain Lodge« genau im Blick. Make your dreams come true. Die Lage war ernst, aber nicht aussichtslos.

VIER
    Der gesichtslose Zauberer stand bis zum Gürtel im Wolfgangsee. Er trug einen sternenübersäten blauen Mantel und breitete die Arme aus, als wollte er alle Aufmerksamkeit des Publikums auf sein bevorstehendes Kunststück lenken. Vor ihm schwamm ein gelbes Schneckenhaus, auf dem er fächerförmig Spielkarten wie auf einem Tisch ausgelegt hatte. Aus der Spitze seines Hutes züngelten Flammen. Der Himmel strahlte noch als weiße Leinwand.
    Bosch drehte den Pinsel in der Hand. Ihm gefiel die neue Malrichtung, die er eingeschlagen hatte. Seine Arbeiten hatten immer etwas Surreales gehabt, aber mit diesem Bild hatte er sich von den mittelalterlichen Motiven verabschiedet. Franz hatte sie, so musste er jetzt zugeben, zu Recht kritisiert. Sein neuer Stil schien ihm großzügiger und positiver. Er hatte auch schon einige Bilder verkauft. Und zwar zu guten Preisen. Sonst hätte er einen Sommer am Wolfgangsee nicht bezahlen können.
    Bosch legte den Kopf schief. »Der Magier« sollte dieses Werk heißen, und es ging ihm leicht von der Hand. Aber immer, wenn er versuchte, das Gesicht des Zauberers zu skizzieren, scheiterte er. Seine Züge schienen hinter einem Schleier zu liegen, den Boschs Gedanken nicht durchdrangen.
    Er legte den Pinsel auf das fleckige Maltuch, ging in die Küche und machte sich ein Schinkensandwich. Dann stellte er sich in die offene Verandatür. Der See schimmerte in Rosa und Gold, seine Oberfläche war spiegelglatt. Nur die Entenfamilie zog in ihrem Kielwasser eine in der Morgensonne glitzernde Spur über das Wasser. Vor dem Schilfsaum lag etwas auf dem Gras, das wie ein großer gelber Stein aussah. Gestern Abend hatte er dort noch nicht gelegen. Bosch biss in sein Schinkenbrot und stieg kauend die Stufen hinab.
    Je näher er dem Ufer kam, umso deutlicher sah er, dass der vermeintliche Stein ein Tier war. Zusammengerollt, den langen dünnen Schwanz um die Schnauze gelegt, lag dort der Hund, dem die Frau aus dem Bioladen den Apfel zwischen die Augen geschossen hatte. Bosch konnte einen schwarzen Fleck gestockten Blutes auf dem fahlgelben Kopf erkennen. Der Hund rührte sich nicht. War er am Ende tot? Auf einmal fühlte Bosch sich an ein grauenhaftes Kunstprojekt erinnert. Ein sogenannter Künstler hatte in einer Galerie in Südamerika einen Straßenhund angebunden und vor den Augen der Welt verhungern lassen. Niemand hatte eingegriffen. Als Bosch davon gelesen hatte, hatte er sich für die Menschheit geschämt. Und dieser Hund hier sah genauso aus.
    »Lebst du noch?«
    Das Tier hob den Kopf ein wenig an. Seine schrägen Augen waren schwarz gerändert und hatten einen stumpfen Ausdruck.
    »Hierher gehörst du aber nicht, oder?« Bosch hatte das Haus gemietet, ohne nach dem Vorhandensein eines tierischen Mitbewohners zu fragen. Das war vielleicht ein Fehler gewesen.
    Der Hund bewegte sich nicht. Seine Rippen schienen noch weiter hervorzustechen als vor einer Woche. Bosch zog den Schinken aus seinem Brot und warf ihn dem Tier hin. Mit einem einzigen Schnappen war der Bissen weg. Bosch warf das restliche Brot hinterher.
    »Bleib ruhig liegen.«
    Der Hund machte keine Anstalten, sich zu rühren, sondern starrte Bosch nur hungrig an. Er schien keiner der üblichen Kläffer und Schwanzwedler zu sein.
    »Ich hol dir noch was.« Bosch drehte sich um und ging den Pfad zum Haus hinauf.
    In der Küche schaute er sich um. Er hatte keine Ahnung, was Hunde fraßen.

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