Totenkult
Choreografie über die verschlungenen Kieswege. Ein japanisches Brautpaar mitsamt der Hochzeitsgesellschaft hatte vor einem Fotografen Aufstellung genommen.
Marie hatte kaum einen Blick dafür, sondern drängte sich zwischen den Menschenmassen hindurch. Immer wieder stieß sie jemanden an oder rannte einem Touristen ins Bild, der gerade ein Erinnerungsfoto schoss. Schnell überquerte sie die Rainerstraße vor dem Schloss Mirabell, hastete am Seitenschiff der Andräkirche vorbei und erreichte endlich das weiße Gründerzeithaus mit dem Säulenportal, den Sitz der »Austria Immo Development«.
Die Kälte im Inneren des alten Gebäudes, die Marie früher immer wie eine stumme Zurückweisung getroffen hatte, empfand sie heute als angenehm. Am Scherengitter des Aufzugs hing ein handgeschriebenes Schild, auf dem stand, dass der Lift außer Betrieb war. Marie wandte sich nach rechts und lief leichtfüßig die ausgetretene Marmortreppe hinauf. Es war befreiend und sogar seltsam beglückend, dass sie Roland an diesem Ort nie wieder begegnen konnte.
Das Glasschild mit der Aufschrift »Austria Immo Development« glänzte an der Wand. Die Tür war nicht abgeschlossen, Jessica musste an ihrem Arbeitsplatz sein.
Marie drückte die Klinke und betrat den Empfangsbereich. Der Schreibtisch in der Mitte des Zimmers war verwaist. Rolands Bürotür neben der roten Ledergarnitur stand halb offen. Die Sekretärin war nirgends zu sehen.
»Jessica?« Die Schreibtischplatte war ungewohnt leer. Der Computer war ausgeschaltet, neben der Telefonanlage lag als einziges Schriftstück ein benutzter Notizblock. Der große Terminkalender war zugeschlagen.
Marie ging in Rolands Büro. Jessica kniete, umgeben von Papierstapeln, auf dem Boden. Bei Maries Eintreten hob sie den Kopf. Dann stand sie schnell auf und klopfte sich unsichtbaren Staub von ihrem lila Sommerkleid. Ihr dunkles Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und sie war barfuß.
»Frau Aschenbach …« Mit der großen Zehe schob Jessica mehrere Aktenordner herum, fand silberne Stöckelschuhe und schlüpfte hinein. »Ich wusste gar nicht, dass Sie heute kommen wollten.« Sie wischte die Hände aneinander ab, als wollte sie Staub abstreifen.
Marie ging wortlos an ihr vorbei und knallte ihre Tasche auf den Schreibtisch. Hier sah alles noch so aus, als hätte Roland sein Büro gerade eben verlassen. Sogar der Computer lief. Auf dem Bildschirm leuchtete der Sonnenuntergang mit der Überschrift »Make your dreams come true«. Vielleicht war Jessica ja gerade dabei, ihre Träume wahr werden zu lassen.
Marie ließ sich in Rolands schwarzen Ledersessel fallen und schlug die Beine übereinander. »Verraten Sie mir, was Sie da tun, Mädchen?«
»Ich?« Jessica riss die Augen auf.
»Sehen Sie hier sonst noch wen?«
»Die ganzen Unterlagen müssen doch geordnet werden, jetzt, wo der Chef …« Jessica biss sich auf die Unterlippe. »Mein Beileid auch.«
»Besten Dank.« Marie betrachtete die Stapel von Ordnern und Papier auf dem Boden, die den türkischen Kelim fast völlig bedeckten. Bei dem Gedanken, was sich darin an Unannehmlichkeiten verbergen konnte, wurde ihr schlecht. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Warum hatte ihr Roland nicht einfach ein gut gefülltes Konto oder ein Treuhandvermögen hinterlassen können? »Ich komme gerade von der Bank.«
Jessica starrte sie an.
»Im Schließfach hab ich etwas Interessantes gefunden.«
»Ah.« Mehr schien dieser Person nicht dazu einzufallen.
»Ja.« Marie schwang ihren Sessel sachte hin und her. »›Arlberg Summit‹ – sagt Ihnen das was?«
»Ach so.« Jessicas Miene hellte sich auf. »Sie suchen die Pressemappe?« Sie stützte die Hände in die Taille und ließ den Blick über die Papierstapel zu ihren Füßen schweifen. »Arlberg Summit, Arlberg Summit …?«
»Also, Sie werden doch wohl wissen, wo die Unterlagen sind.« Maries Ton wurde schärfer. »Als Geschäftsführerin.«
Im Vorzimmer läutete das Telefon.
»Einen Moment.« Jessica wandte sich zur Tür.
»Hiergeblieben.« Marie schlug mit der Hand auf den Schreibtisch. Jessica drehte wieder um. Das Läuten hörte auf. »Also, Mädchen, ich höre.«
»Ja, was denn?« Jessica hob die Achseln. »Wollen Sie jetzt die Pressemappe, oder nicht?«
So viel Unverfrorenheit hätte Marie ihr nicht zugetraut. »Ich weiß, dass Dr. Albrecht der Gesellschafter dieses ominösen Unternehmens ist«, zischte sie. »Und Sie sind anscheinend die Geschäftsführerin. Wie immer
Weitere Kostenlose Bücher