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Totenkult

Totenkult

Titel: Totenkult Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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Marie schob die Beine über den Rand des Feldbettes. Sie brauchte einen Fluchtplan. Allein schon dieses Wort beflügelte sie und gab ihr ein Stück Kraft zurück.
    Draußen heulte der Wind. Dieser Wind, der Kopfschmerzen verursachte, der die Augen und die Haut reizte und die Gedanken verwirrte. Sie hasste ihn und war doch froh, ihn noch hören zu können. Zweige strichen über die Scheiben, Blätter raschelten und Äste knackten. Da, ein Poltern. Ein Stein hatte sich gelöst, rollte irgendwo unterhalb der Kapelle bergabwärts. Vielleicht gab es dort einen Weg. Hatte ein Tier den Stein losgetreten? Oder sogar ein Wanderer?
    Eine verrückte Hoffnung erfasste Marie. Sie musste sich bemerkbar machen. Das war ihre letzte Chance. Gestern, als sie noch eine Stimme gehabt hatte, hatte sie um Hilfe geschrien. Heute kam nicht mehr als ein Krächzen aus ihrer ausgetrockneten Kehle. Die Flasche stand auf der Kiste, das Glas daneben. Vielleicht konnte sie es wagen, jetzt noch schnell einen Schluck Wasser zu trinken. Nein, auf keinen Fall. Das Risiko war zu groß.
    Hektisch sah sich Marie nach etwas um, mit dem sie das Fenster einschlagen konnte, um den Wanderer, wenn es denn einer war, auf sich aufmerksam zu machen. Nichts, in dieser Kapelle gab es nichts, was sie gebrauchen konnte. Wenn es ihr gelänge, das Eisenkreuz aus seiner Verankerung zu lösen und aus dem Fenster zu werfen. Damit könnte sie auf sich aufmerksam machen. Aber das Kreuz hing zu hoch, und es war sicher zu schwer für sie. Über dem Türsturz waren auch im Halbdunkel noch die Rauchspuren zu erkennen. Und da kam Marie eine Idee.
    Sie stürzte sich auf ihre Handtasche und kippte deren Inhalt auf das Feldbett. Mit fahrigen Händen wühlte sie sich durch Geldtasche, Schminksachen, Schlüssel und Zigaretten. Endlich fand sie, wonach sie suchte. Ihr wurde ganz schwach vor Erleichterung. Ihr goldenes Dupont-Feuerzeug. Wie einen Talisman presste sie es ans Herz.
    Sie warf ihre Habseligkeiten auf den Boden und schob das Feldbett zum Fenster. Obwohl es für den Transport über lange Strecken konstruiert und entsprechend leicht war, fiel es Marie schwer, die Liege über den unebenen Steinboden zu schieben. Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte stellte sie das Bett hochkant und lehnte es schräg an die Wand unter dem Fenster. Immer wieder glitten die Füße des Bettes von der Wand ab, bis sie endlich Halt an einem Mauerstück fanden, wo der abbröckelnde Putz ein Loch hinterlassen hatte. Maries Hand zitterte, als sie den Daumen an das Rädchen des Feuerzeugs legte und es herabdrückte. Einmal, zweimal, dreimal – nichts.
    »Nein!« Ihre letzte Chance auf Rettung war vorbei.
    Marie hatte während der ganzen Zeit ihrer Gefangenschaft keine Träne vergossen. Jetzt fing sie hemmungslos an zu weinen. Sie umklammerte das Feuerzeug, schüttelte es und versuchte noch einmal, einen Funken zu schlagen. Mit einem Zischen sprang die Flamme an. Marie erschrak so, dass sie das Feuerzeug fast fallen gelassen hätte. Schnell hielt sie es an den Bezug des Feldbettes.
    Die Flamme umspielte den dicken Saum, züngelte über das grobe Leinen. Quälend langsam breitete sich die Hitze über den dicht gewebten Stoff aus. Endlich hatte das Feuer ein paar hochstehende Fasern erfasst und fraß sich in das Gewebe. Es schwelte und knisterte, dann schlugen plötzlich Flammen hoch. Eine Rauchsäule stieg empor und fand ihren Weg durch die zerbrochenen Fenster ins Freie.
    Maries Knie wurden weich. Sie musste sich an die Wand lehnen. Die Hoffnung und die Aufregung der letzten Minuten hatten sie den Rest ihrer Kraft gekostet. Jetzt konnte sie nur noch warten. Wenn sie es nicht geschafft hatte, Hilfe zu holen, dann sollte es eben so sein. Dann würde sie das Gift nehmen.
    Nach und nach erfasste das Feuer das ganze Feldbett. Bald hing der Bezug nur noch in brennenden Fetzen herab. Die Flammen umspielten die trockenen Ledergelenke des Gestells, sodass sie stöhnten und ächzten. Die Holzstangen bewegten sich wie die geschwärzten Glieder eines Sterbenden auf seinem Scheiterhaufen.
    Der Wind vor dem Fenster frischte auf und fuhr durch die Löcher in den Scheiben. Er fachte das Feuer an und drückte den Rauch durch das kaputte Glas in die Kapelle zurück. Die Heiligen an den Wänden verschwammen hinter Nebelschwaden. Beißender Qualm reizte Maries Augen und kratzte in ihrer ausgedörrten Kehle. Sie legte die Hände schützend über ihre Nase und atmete so flach wie möglich. Das Rauchgas hatte sie nicht

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