Totenkult
der Mordwaffe hatte Henri sich selbst aus der Verantwortung entlassen. Er hatte die Interessen seines Großvaters mit dessen Mitteln gewahrt. Wahrscheinlich hatte er vorher mit dem Geist des alten Forschers Rücksprache gehalten. »Verraten Sie mir nur noch eins.«
»Gern«, sagte Henri. »Was wollen Sie wissen?«
Bosch beugte sich vor und strich dem Tiger über die zerfransten Ohren. Sie fühlten sich wie Pergament an. »Aschenbachs Tod hat keinen Verdacht erregt.« Aus den Pranken des ehemaligen Raubtieres ragten scharfe Krallen. Nie würde Bosch verstehen, wie man so ein prächtiges Tier als Kaminvorleger missbrauchen konnte. »Es gibt sogar einen Totenschein.«
Henri musterte Bosch wie ein Professor, der bereit ist, der Frage eines begabten Studenten Gehör zu schenken.
»Aber ausgerechnet Sie – der Mörder – haben als Erster von einem Mord gesprochen.« Bosch erinnerte sich gut an den verregneten Nachmittag in der Bibliothek.
»Ah ja.« Henri nickte. »Gute Frage.«
»Danke.« Bosch hörte selbst den Sarkasmus in seiner Stimme.
Aber Henri schien zum Glück nichts bemerkt zu haben, sondern faltete die Hände unter dem Kinn. Sie waren zwei Wissenschaftler beim Klären einer interessanten Frage. Wenn er bei Henri den Eindruck erwecken konnte, dass er Verständnis für seine Tat hatte, würde der ihn vielleicht gehen lassen. Oder Henri würde unaufmerksam werden. Die Tür lag nur ein paar Meter entfernt zu seiner Rechten. Wenn Cesario auf seinen staubigen Speicher zurückgekehrt war, standen Boschs Chancen auf Flucht nicht schlecht. »Das war ein sehr geschickter Zug von Ihnen, das muss ich sagen.« Er zwang sich zu einem Lächeln.
»Nicht wahr?« Henri drohte Bosch mit dem Finger. »Sie hätten aber selbst darauf kommen können.«
»Wirklich?« Bosch rutschte ein wenig auf dem Hocker nach vorn, als interessierte ihn die Klärung dieser Frage brennend. Dabei vermied er jeden Blick zur Tür. »Warum?«
»Ich habe Ihnen doch das Zeitungsinterview mit Frau Aschenbach gezeigt. Die dumme Person hatte sich entschlossen, die Geschäfte fortzuführen«, er schnaubte voller Verachtung, »anstatt sich mit ihrem Erbe ein schönes Leben zu machen. Eine Woche nach dem Tod ihres Mannes hat sie mich angerufen.«
»Und da haben Sie beschlossen, ihr den Mord anzuhängen.« Bosch war, als schmeckte er den bitteren russischen Tee und hörte das Brodeln des Samowars und den Regen, der gegen die Spitzbogenfenster prasselte. Aber es waren nur die letzten prasselnden Zuckungen des Kaminfeuers. Fast bewunderte er Henri für seine Unverfrorenheit. »Und damit haben Sie mich neugierig gemacht.«
Henri nickte. »Ich wusste, Sie würden dem Rätsel auf Dauer nicht widerstehen können.« Er schenkte Bosch ein verschmitztes Lächeln. »Wir Forscher sind so.«
Bosch war ein Forscher, aber kein Mörder. Und das unterschied ihn von Henri. Er verkniff sich eine entsprechende Antwort. Mit dem Tod Aschenbachs und dem Mordverdacht gegen dessen Frau hatte sich Henri gleich zwei Feinde vom Hals geschafft. Es hatte ihn zwar einige Mühe gekostet, Bosch auf diese Fährte zu setzen, aber am Ende war er bereitwillig dem vorgezeichneten Weg gefolgt.
Henri trommelte mit zwei Fingern auf die Stirn eines Löwenkopfes. »Seien Sie mir nicht böse, mon cher , ich musste Sie einfach für meine Zwecke einsetzen. Es war eine Art Schachspiel. Und unsere Partie hat ja auch Spaß gemacht, oder?«
Ein Schachspiel mit Menschen als Schachfiguren, und der Spieleinsatz war sein Leben. »Hat es das?« Es waren höchstens sechs Schritte bis zur Tür. Den Weg durchs Schloss würde er finden, aber durch den Wald? Bosch verfluchte seine Abneigung gegen moderne Technologie, die ihn vom Kauf eines Handys abgehalten hatte.
»Und ob.« Henri hob den Zeigefinger. »Aber vergessen Sie nicht – die Frau war nicht so unschuldig, wie Sie vielleicht meinen.« Er schüttelte den Kopf. »Sie erinnern sich an das Gartenbuch? Das über die Giftpflanzen?«
Bosch stupste das Tigerfell mit der Schuhspitze an. Es bog sich auf, als wollte es dieser Behandlung ausweichen. Der Hund saß jetzt sicher schon an der Verandatür und wartete auf ihn. »Ja, natürlich. Frau Aschenbach hat es mitgehen lassen, als Sie ihr die Gartenbücher ausgeliehen haben.« Bis vor wenigen Tagen war der Garten des Bauernhauses voller bunter Pflanzen gewesen, doch heute Morgen hatte Bosch vor abgeräumten Beeten gestanden.
»Das habe ich Ihnen erzählt, ja, und Sie haben den Köder auch bereitwillig
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