Totenkult
bedacht.
Marie durchquerte die Kapelle und stellte sich neben die Tür. Sie kniff die Augen zu und versuchte, gegen den quälenden Husten anzukämpfen. Aber ihre Kehle zog sich zusammen, und ihr Magen rebellierte. Von einem Krampf geschüttelt, beugte sie sich vor und würgte. Sie konnte kaum noch atmen.
Da hörte sie ein Geräusch, ein leises Schaben an der Tür.
Mühevoll richtete sich Marie auf und versuchte, etwas zwischen den dichten Rauchschwaden zu erkennen. Schemenhaft konnte sie das Türblatt zu ihrer Linken sehen. Bitte, lieber Gott, lass es eine Ratte sein und nicht Henri. Aber dann bemerkte sie den schwankenden Lichtstrahl, der sich unter der Tür in ihr Verlies hineintastete. Knirschend wurde ein Schlüssel ins Schloss geschoben. Sie hatte keinen Wanderer auf sich aufmerksam gemacht, sondern ihren Kerkermeister. Henri war gekommen, um sie zu töten.
Marie stieß sich von der Wand ab und trat vor die Tür. Viele quälende Stunden hatte sie dem Wasser in der Flasche widerstanden und dem gnädigen Tod durch Gift. Wenn er sie umbringen wollte, dann sollte er es nur versuchen. Sie würde bis zu ihrem Ende kämpfen.
Der Schlüssel drehte sich klappernd im Schloss.
»Immer hereinspaziert, Henri. Ich lebe noch.«
Das Klappern verstummte.
»Na, was ist?« Marie versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. »Hier bin ich. Gesund und munter.« Sie musste husten. »Sie haben wohl gedacht, dass ich auf Ihren Trick reinfalle, was?« Mit einem behinderten Greis musste sie doch fertigwerden.
Der Lichtstrahl wurde schwächer, dafür wurde jetzt langsam die Klinke herabgedrückt.
»Altes Arschloch …«
Die Tür schwang auf. Grelles Licht flutete über Maries Gesicht und blendete sie. Reflexartig hielt sie sich die Hand vor die Augen. Sie blinzelte durch die Finger und versuchte, die Gestalt zu sehen, die in dem dunklen Gang stand und sie mit einer Taschenlampe anstrahlte.
Und dann erkannte sie, wer vor ihr stand, und schrie los.
SIEBZEHN
»Sie haben Aschenbach nicht getötet?« Die Anspannung der letzten Minuten beeinträchtigte Boschs Konzentration. Henri musterte ihn von seinem afrikanischen Löwenthron aus. »Aber Sie haben doch gerade den Mord an ihm gestanden.«
»Es war selbstverständlich Grand-père .« Nachsicht lag in Henris Stimme und auch ein wenig Verwunderung über Boschs Begriffsstutzigkeit.
»Thibeault de Mortin? Sie meinen wirklich Thibeault …?«
»Aber ja, natürlich.« Henris Froschaugen reflektierten das Kaminfeuer, als wären sie aus Glas. Bosch konnte keine Gefühlsregung in ihnen erkennen. »Schließlich ging es doch um all das hier.« Er machte eine ausholende Geste, die das Arbeitszimmer mitsamt den verstaubten Tierpräparaten umfasste. Doch das Sammelsurium stand offenbar für all die Kunstschätze, die Thibeault de Mortin auf der ganzen Welt geraubt und für die er eigens ein Schloss am beschaulichen Wolfgangsee gebaut hatte. »Ich war nur das Werkzeug.«
Bosch fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er konnte wirklich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Das Tigerfell auf dem Boden erinnerte ihn an den Hund, wenn er zu seinen Füßen schlief.
Henri nickte nachdenklich. »Wenn dieses … Grandhotel hier entstanden wäre … Die wissenschaftliche Sammlung, sein ganzer Ruhm, den er unter Einsatz seines Lebens für die Menschheit gesammelt hat, wäre vernichtet worden.«
»Und deshalb haben Sie seinen Pfeil genommen? Und sein – Gift ? Für die Menschheit?« Wenn Bosch etwas auf die Nerven ging, dann große Worte, um das eigene Verhalten zu rechtfertigen. »Der Großteil der Menschheit hält sich an das Gesetz. Oder bemüht sich wenigstens.«
»Gesetz.« Henri lachte sein Lachen, das so sehr an das Meckern eines Ziegenbocks erinnerte. »Gesetze sind dem Fortschritt schrecklich hinderlich, mein Lieber. Meine Familie hat es zum Glück immer abgelehnt, nach irgendwelchen Gesetzen zu leben. Sonst säßen wir jetzt nicht hier.« Der schwache Schein des verlöschenden Feuers legte Schatten auf Henris Züge. »Dieser Aschenbach hatte den Tod verdient. Er hat den Tod geradezu herausgefordert.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Er hätte sich früher überlegen müssen, mit wem er sich einlässt.«
»Das heißt, es war quasi Notwehr.« Bosch trat gegen den Kopf des Tigers. Eine Wolke aus Staub erhob sich, schwebte einen Augenblick in der Luft und legte sich dann wie ein Schleier über das löcherige Fell, dessen Streifen im Laufe der Jahre ergraut waren. Durch die Wahl
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