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Totenkult

Totenkult

Titel: Totenkult Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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in die Ferne gerichtet. »Da war diese Kalebasse in Grand-pères Nachlass.« Gedankenverloren streichelte er einen der Löwenköpfe. »Aus seinen Tagebüchern wusste ich natürlich, dass darin Gift war. Kalebassen-Curare. Es wird«, er räusperte sich, »zur Jagd verwendet. Ich habe einen Pfeil aus einem der Schaukästen genommen, die Spitze in das Curare getaucht und Aschenbachs Haut damit geritzt. Von dem Sturz in die Rosen war er sowieso ganz zerkratzt.« Henri lachte leise. »Ich habe den Guten vorsichtshalber in die Dornen fallen lassen.«
    Eine Rauchschlange kroch aus der Feuerstelle des Kamins und wand sich um Boschs Beine. Es brannte nur noch ein einzelner Holzklotz. »Warum so umständlich?«, fragte er. »Sie hätten ihm doch einfach ein Kissen aufs Gesicht drücken können. Betrunken genug war er doch. Er hätte sich bestimmt nicht gewehrt.«
    Henri riss die Augen auf. »Und ich dachte, gerade Sie würden das verstehen«, sagte er. »Das war doch nicht ich, der Aschenbach getötet hat.«

SECHZEHN
    Der Kürbis war gelb und hatte grüne Streifen. Er war kaum größer als eine Faust, nicht größer als die abgeschlagenen Köpfe in der Kiste. Marie wusste das, obwohl sie den Kürbis in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Genauso wenig wie die Flasche und das halb volle Wasserglas. Seit gestern hatte sie nichts mehr getrunken. Ihre Kehle war ausgedörrt. Ihre Zunge war ein geschwollener Fleischklumpen, der an ihrem Gaumen klebte.
    Marie drehte sich auf dem Feldbett auf den Rücken, schloss die Augen und legte ihren Arm über das Gesicht. Sie traute sich nicht, etwas zu trinken. Vielleicht war das Wasser vergiftet und der Inhalt des Kürbisses harmlos. Henris Grausamkeit war unberechenbar.
    Die zweite Nacht ihrer Gefangenschaft brach an. Wie viele Nächte würden dieser noch folgen? Das konnte sie selbst entscheiden. Diese schreckliche Freiheit hatte Henri ihr gelassen. Doch irgendwann würde sie den Kürbis entkorken, seinen Inhalt in das Wasserglas schütten und gierig und dankbar trinken. Sie hatte gelesen, dass ein Mensch drei Tage ohne Wasser leben konnte. Morgen war also der zweite Tag. Lohnte es sich, für den Gewinn eines einzigen Tages, den sie am Leben war, diese Qualen zu leiden? Ihr Kopf war voller Watte. Sie wurde schläfrig. Bald würde sie in eine Ohnmacht gleiten.
    Draußen im Wald schrie ein Vogel. Vielleicht eine Eule, auf jeden Fall ein Lebewesen. Marie nahm den Arm vom Gesicht und schaute zum Fenster. Ein großer Schatten saß auf einem Zweig und wippte auf und ab. Durch die zerbrochenen Scheiben konnte sie die Blätter sehen, die sich im Wind bewegten. Der Schatten breitete Flügel aus, stieß sich ab und flog davon. Kalte Abendluft strömte durch die Fensterlöcher. Eine Gänsehaut überzog ihre bloßen Arme. Wahrscheinlich würde sie in der Nacht ohnehin erfrieren.
    In jedem Fall war sie morgen tot. Ob Henri einen Blick auf ihre Leiche werfen würde? Um festzustellen, ob sie von seinem Angebot Gebrauch gemacht hatte und sein Plan aufgegangen war? Nein, der hatte sie sicher schon aus seinem Gedächtnis gestrichen. Aber sie war kein Insekt, das man einfach erschlug und sofort vergaß.
    Marie drehte sich auf die Seite und sah zu den Umrissen der Kisten hinüber. Auf einer konnte sie die Silhouetten der Flasche und des Kürbisses erahnen. Wenn sie jetzt das Gift in das Wasser goss und auf einen Zug austrank, blieb ihr dann noch genug Zeit, um ein zweites Glas zu trinken? Sie würde vielleicht starke Schmerzen haben. Und es könnte endlos dauern bis zu ihrem Tod. Je mehr sie darüber nachdachte, umso wütender wurde sie. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum Henri, dieses Arschloch, sie hier eingesperrt hatte. Und natürlich hatte sie keine Ahnung, warum er sie überhaupt umbringen wollte. Nur noch einen Tag zu leben.
    Roland war an allem schuld. Er hatte einen Immobilienfonds für das Schloss auflegen wollen. Auf der Suche nach Rolands Konten war sie stattdessen auf die Datei mit dem Grandhotel gestoßen. Nur deswegen hatte sie Henri gleich angerufen und war ihm auf den Pelz gerückt. Nie hätte sie sonst versucht, den Schlossherrn zu belästigen. Aber für Schuldzuweisungen war es jetzt zu spät. Morgen waren sie beide tot, Roland und sie. Im Tode vereint, wie man so schön sagte.
    Nein. Marie setzte sich auf. Sofort drehten sich Kreise vor ihren Augen, aber sie zwang sich, sitzen zu bleiben. Sie wollte nicht sterben. Die Kreise wurden langsamer, dann verblassten sie und verschwanden ganz.

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