Totenkult
eine etwas kapriziöse Person zu sein. Wer weiß, was so einer Frau spontan einfällt?«
Damit hatte Henri natürlich recht. Womöglich war die Aschenbach nach Paris geflogen, um sich neu einzukleiden. Hatte nicht irgend so ein Modejournal auf ihrem Terrassentisch gelegen?
»Außerdem«, fuhr Henri fort, »ist Roland Aschenbach vielleicht ja gar nicht an meinem Gift gestorben.« Er wiegte den Kopf hin und her. »Immerhin war das Curare schon jahrzehntealt. Also, vielleicht hat Ihre Nachbarin einfach die Gelegenheit genutzt und ihrem untreuen Ehemann das Kissen selbst aufs Gesicht gedrückt.« Er zuckte mit den Schultern. »Durchaus möglich.«
»Sie meinen, sie ist abgehauen?« Natürlich, das verlassene Haus, die hastig zurückgelassene Post auf der Terrasse und das Auto vor der Tür. Es deutete alles auf eine überstürzte Flucht hin. Bosch schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Ich Rindvieh.«
»Ich würde Ihnen gerne widersprechen, cher , aber ich fürchte, das kann ich nicht.« Henri schaute wieder auf die Uhr. Seine Stimme klang sanft und ein wenig bedauernd. »Die Frage ist, was machen wir jetzt mit Ihnen?« Er runzelte die Stirn, dann räumte er ein paar Zettel auf dem Schreibtisch beiseite. Eine moderne Telefonanlage kam zum Vorschein.
»Mit mir?« Boschs Herzschlag beschleunigte sich. Er zog die Füße unter den Hocker, bereit, aus dem Zimmer zu laufen. Aber vielleicht stand Cesario draußen im Gang Wache. Besser war, er fand einen Vorwand, unter dem er das Zimmer für kurze Zeit verlassen konnte. »Henri, dürfte ich vielleicht Ihr Badezimmer benutzen?«
Aber Henri schien seine Gedanken gelesen zu haben. »Sie wissen doch, dass ich Sie nicht gehen lassen kann, Hans.« Er legte eine Hand auf den Telefonhörer und schaute zu Bosch. »Sie würden direkt zur Polizei laufen, habe ich recht?«
Bosch schluckte und schwieg.
»Genau wie ich mir gedacht habe«, meinte Henri. »Man würde Aschenbachs Leiche exhumieren. Und was würde die Obduktion wohl ergeben?«
»Curare«, sagte Bosch. Wenn die Aschenbach ihren Mann erstickt hatte, war das nicht mehr nachzuweisen. Aber das Gift war sicher noch im Körper vorhanden. Auch wenn es nicht zum Tod geführt hatte, würde man Henri des Mordes anklagen.
»Eben.« Henris Blick glitt über die Tastatur des Telefons. Er zögerte, schien hin und her gerissen. Schließlich drückte er auf einen der Knöpfe.
Boschs Muskeln verkrampften sich. »Was tun Sie da?«
»Ich habe Cesario gerufen.« Henris Stimme war kalt und unbeteiligt. Er nahm den Papierstapel, den er gerade hergerichtet hatte, und schob ihn in seine Aktentasche. Der Fall Bosch war erledigt, er selbst in Gedanken schon wieder bei seinen Reisevorbereitungen. Das letzte Holzscheit zerbarst krachend im Kamin.
ACHTZEHN
Marie starrte in das dunkle Gesicht von Cesario. Der Schlossherr war nicht selbst gekommen. Er hatte seinen Henkersknecht geschickt. Sie trat einen Schritt zurück.
Cesarios Blick glitt von ihr zu dem brennenden Bettgestell am Fenster. Splitter aus Feuerschein schwammen in seinen schwarzen Augen. Er packte Marie am Arm und riss sie an sich. Ihr Gesicht wurde an seine Brust gepresst, und sie bekam keine Luft mehr. Verzweifelt kämpfte sie gegen ihn an, schlug mit den Armen um sich, trat ihn vors Schienbein. Aber gegen seine Kraft hatte sie keine Chance. Wenn er ein Messer hatte, dann würde er es auch benutzen.
Aber da lockerte sich sein Griff. Überrascht riss Marie sich los und wich zurück. Cesario starrte über ihre Schulter in die Kapelle hinein. Er ballte die Hände zu Fäusten und brüllte ein paar Worte, die wie ein Fluch klangen. Dann hob er den Arm schützend vor sein Gesicht, stürzte an Marie vorbei in die Felsenkapelle und verschwand in den Rauchschwaden.
Mit dem Mut der Verzweiflung rannte Marie durch die Tür in den Gang. Sie stolperte über die Schwelle, taumelte gegen eine Wand, stieß schmerzhaft mit der Schläfe an einen eisernen Fackelhalter und schlug längs hin.
Benommen kauerte sie auf dem festgetretenen Lehmboden und kämpfte gegen heftigen Schwindel an. Sie musste fliehen. Gleich. Jetzt. Aber ihr Kopf war vom Rauch benebelt. Sie zog die Beine an und legte die Arme um die Knie. Ihr war eiskalt. Ihre Sandalen hatte sie zum Schlafen ausgezogen. Sie standen noch immer vor dem Feldbett. Der Lehmboden fühlte sich rau und warm unter ihren nackten Fußsohlen an. Neben ihrem Fuß konnte sie den Abdruck des kleinen spitzen Schuhs erkennen, der sie so erschreckt hatte. Erst
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