Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Totenmesse

Titel: Totenmesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
Vom Netzwerk:
waren die Tränen, die immer noch aus den Augen des gespaltenen Kopfes liefen. Als setzte das Weinen sich über den Tod hinaus fort.
    Ich weiß noch immer nicht, wie ich vom Befehlsüberbringer zum schweinischsten Fußsoldaten in diesem Rattenkrieg verwandelt wurde. Vermutlich war ich es die ganze Zeit. Ich hatte nur noch die eine oder andere Illusion behalten. Sie sind jetzt verschwunden.
    Es ist erst zwei Wochen her seit dem letzten Mal, aber es kommt mir vor wie ein ganzes Leben. Eine andere Hand hält jetzt den Bleistift, eine Hand, die getötet hat und immer weiter tötet.
    Am dreizehnten September begaben wir uns in die brummende Stadt. Wie ich wusste, verwandelte sich das Brummen schnell zu einem Brüllen. Keiner kommt mit intaktem Gehör hier heraus, das ist unmöglich. Wenn überhaupt jemand überlebt, wird er taub sein.
    Schon nach der ersten Woche setzte der strenge Frost ein. Die Hälfte von uns trägt irgendwelche russischen Uniformteile am Körper, die wir den gerade Getöteten abgenommen haben. Und die Russen tragen unsere. Wir beginnen uns zu gleichen.
    Von dem Umstand abgesehen, dass sie härter sind.
    Am Anfang versuchte ich, mich, so gut es ging, über den Verlauf der Kämpfe zu informieren; das war, als ich immer noch an so etwas wie einen Verlauf glaubte, an eine mit der Zeit erfolgende Veränderung. Vielleicht war das meine letzte Illusion.
    Von Anfang an waren fünf Schlüsselpositionen besonders umkämpft. Der richtig große Kampf galt dem Hügel. Der Name klingt inzwischen mythisch: Mamajev Kurgan, der alte tatarische Grabhügel. Bedeckt von Leichen, innen wie außen. Der Tod Schicht auf Schicht. Danach der Kampf um das Silo, das gewaltige Getreidesilo, das inzwischen aufgehört hat zu brennen. Am achtzehnten September wehrten die höchstens fünfzig Verteidiger im Inneren des brennenden Giganten zehn Angriffe ab. Ich war bei den zurückgeschlagenen Angriffen dabei. Zwei Tage später schalteten die Panzer ihre beiden noch funktionierenden Maschinengewehre aus. Wir begaben uns in den Rauch und schossen auf die Geräusche. Sicht gab es nicht. Es war die Hölle auf Erden.
    Aber es gibt viele. Das habe ich begriffen. Es gibt viele Höllen auf Erden.
    Es gibt auch den Roten Platz – ich frage mich, ob es in allen russischen Städten einen Roten Platz gibt. Dort wurde um das große Kaufhaus Univermag gekämpft, in dem ein russischer Stab untergebracht war. Alle, die für dieses absurde Kaufhaus starben.
    Und dann der Fähranleger. An drei Stellen kommen sie von der anderen Seite der Wolga herüber. Es ist erschreckend zu sehen. Es sind Schwärme aus dem Osten, ein endloser Strom von Kanonenfutter, der nach Westen übergesetzt wird. Wir nahmen den mittleren Anleger. Versenkten alle Boote. Für einen kurzen Augenblick hielten wir den Strom auf, aber auf die Dauer geht es nicht. Woher kommen sie alle? Wie groß ist dieses Land? Werden sie direkt aus der Erde geboren? Werden sie in genetischen Fabriken auf mechanischem Weg hergestellt? Kanonenfutterfabriken? Wir töten und töten. Sie töten und töten.
    Dann der Hauptbahnhof. In fünf Tagen wechselte er fünfzehnmal den Besitzer. Vor und zurück, bis nicht einmal davon die Rede sein konnte, dass noch Ruinen übrig waren. Die Ruinen von Ruinen eroberten wir schließlich. Aber wozu wir sie eigentlich noch brauchten …
    Und dann die Kämpfe um den verfluchten Flusslauf. Die Tscharitsaschlucht. Schukow hatte da sein Hauptquartier. Den Tscharitsabunker. Wir nahmen ihn ein, doch sie verlegten das Hauptquartier einfach aufs andere Ufer der Wolga. Die Seite des Flusses ist immer noch eine Fata Morgana. Wir kommen wohl nie hinüber.
    Danach verlor ich den Überblick – eigentlich sind nur ein paar Tage vergangen. Jetzt habe ich auch das Zeitgefühl verloren. Ich musste in der Gruppe nach Datum und Uhrzeit fragen. Jemand sagte zweiter Oktober, zwölf nach zehn am Abend. Also, das sind Informationen aus zweiter Hand. Ich selbst sehe im Moment nur den Feind, den allernächsten Feind, den ich töten muss, bevor er – oder sie – mich tötet. Ich habe auch Frauen getötet. Ich bin richtig gut darin geworden. Frauen und Kinder. Auf alle, die auf mich zu schießen scheinen, schieße ich. Und auf alle anderen ebenfalls. Ich bin eine Art reiner Brennpunkt geworden. Ein Visier aus Fleisch und

Weitere Kostenlose Bücher