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Totenmesse

Titel: Totenmesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Blut. Wenn ich dazu die Kraft hätte, würde ich mich fragen, wie zum Teufel das zugegangen ist.
    Ich glaube, wir sind irgendeine Elitetruppe. Vor ein paar Wochen nur hätte ich noch exakt gewusst, was wir waren. Wir sind diejenigen, die in die Ruinen und die Kloaken hineingehen und sie säubern. Wir sind diejenigen, die den engsten Kontakt mit den Scharfschützen und den Sturmtruppen haben. Wir sind diejenigen, die mit scharf geschliffenen Spaten erschlagen werden.
    Und ich bin der Veteran. Das behaupten andere, nicht ich. Es dauerte nicht lange, Veteran zu werden. Wenn ich mich wirklich konzentriere, kann ich sehen, dass sie mich bewundernd ansehen. Es heißt, dass eine Statistik über meine Toten geführt wird. Es heißt, dass man mich mit Zajtsev in einem Wettkampf sieht. Es heißt, dass Wetten abgeschlossen werden.
    Dafür dass sie Kollektivisten sind, haben sie viele individuelle Helden. In einer Weise hat der Krieg sich gewendet, als General Aleksandr Rodimtsev eintraf. Siebenunddreißig Jahre alt und ein echtes Kriegsgenie, wenn das Wort nicht eine Unmöglichkeit ist. Bei den Russen kehrte eine andere Moral ein. Wenn nicht auch das Wort eine Unmöglichkeit ist.
    Und dann Vasilij Iwanowitsch Zajtsev. Der Meister aller Scharfschützen. ›Hüte deine Waffe wie deine Augen‹, sagen sie. Es heißt, dass er unsere Scharfschützennester auslöscht, indem er sein Visier an Panzerabwehrgeschützen anbringt und durch die schmalen Schießscharten feuert. Es kann ein Mythos sein. Aber wenn ich ihn sehe, bezweifle ich das.
    Als ich Zajtsev zum ersten und zum einzigen Mal sah, mischten sich meine beiden Leben. Es ist noch nicht lange her. Da kehrte die Feder in meine Hand zurück. Die Feder oder das Schwert, das ist die Frage.
    Es ist immer noch die Frage.
    Ich glaubte, ich hätte ganz einfach das Leben gewechselt. Wäre ein anderer geworden. Durch und durch. Dass es so einfach wäre, alle Schichten von einem Menschen abzuziehen. Dass Kultur, Gelehrsamkeit und Bildung trotz allem nur Firnis wären. Etwas, das man über sein wirkliches Ich pinselt. Doch das ist nicht ganz richtig. Ich will es zumindest nicht glauben.
    Tatsache ist, dass ich ihn für ungefähr eine halbe Sekunde im Visier hatte. Doch der Augenblick wurde gestört. Er wurde von einem Mann im Hintergrund gestört. Es war höchst sonderbar. Ich kannte den Mann. In Zajtsevs unmittelbarer Nähe. Ein Mann aus einem anderen Leben. Der Name fiel mir auf der Stelle ein. Maxim Kuvaldin. Wir waren uns begegnet. Aber wo?
    Zajtsev verschwand aus meinem Fadenkreuz. Nie länger als zwei Sekunden an derselben Stelle. Eine Grundregel. Maxim verschwand auch.
    Doch nicht aus meinem Bewusstsein. Dieses scharf geschnittene Gesicht – und der Name, der sofort auftauchte. Woher?
    Wie könnte ich einen Russen kennen? Einen Sowjetbürger? Einen Bolschewiken?
    Es gab eine Zeit, als solche Bezeichnungen keine größere Rolle spielten. Und plötzlich erinnerte ich mich. Ein wissenschaftlicher Kongress in Zürich, ein paar Jahre vor dem Krieg. Er war da. Doktor Maxim Kuvaldin. Unsere Forschungsprojekte berührten sich. Wir unterhielten uns, zwischen uns ein offizieller russischer Dolmetscher. Es war auf einer altmodisch-akademischen Cocktailparty im Rathaus von Zürich, und das Gespräch wurde mehrfach vom Dolmetscher unterbrochen, gerade wenn wir im Begriff waren, auf Wesentliches zu sprechen zu kommen. Ich erinnere mich noch deutlich an Kuvaldins verschmitztes Lächeln, als wüsste er, dass er nie in seinem ganzen Leben etwas Wesentliches würde diskutieren können. Als wäre es sein Alltag, mit dieser Einsicht zu leben.
    Als wir gezwungen waren, das Gespräch abzubrechen, und der Dolmetscher sich abwandte, um zu gehen, ergriff Kuvaldin meine Hand und flüsterte mir in gebrochenem Deutsch zu: ›Es gibt eine Alternative.‹
    Ich verstand nicht, was er meinte. Vielleicht verstehe ich es jetzt.
    Gerade als ich mich in ein Tier, ein Raubtier verwandelt hatte, tauchte ein Bild aus der Vergangenheit auf und erinnerte mich daran, wer ich war. Eigentlich.
    Unser Läufer kehrt zu der Ruine zurück, in der wir sitzen. Die Kälte hat sich festgesetzt. Der Frost kommt. Der Läufer spricht mit unserem Unteroffizier. Ich erkenne an der Körpersprache, dass wir unsere Bestätigung bekommen haben. Zeit zu sterben.
    Wie ich in diesen Wochen getötet habe. Und dass

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