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Totenmesse

Titel: Totenmesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Inneren. Sie wollte, dass in ihrem Inneren Flammen loderten.
    Sie stand auf und ergab sich in ihr Zittern. Sie ging zum Sekretär, zog die unterste Schublade auf und nahm einen kleinen Karton heraus. Sie öffnete ihn. Ein Massagestab lag darin.
    Sie warf einen Blick zu dem Sohn in ihrem Bett und einen Blick auf den Massagestab in ihrer Hand, und sie dachte: Soll das wirklich so sein?

32
    Freitag, den 2. Oktober 1942,
    zwölf Minuten nach zehn abends
    Es wäre absurd, aufgrund eines Missverständnisses zu sterben, darüber sind wir uns einig. Deshalb warten wir auf die Bestätigung, dass der Irrsinnsauftrag wirklich stimmt. Wenn in Stalingrad etwas schwer zu erhalten ist, dann ist es Bestätigung, das haben wir bitter erfahren müssen.
    Dieses Warten auf Bestätigung gibt mir ein paar Minuten im schwachen Licht einer auf wunderbare Weise geretteten Kerze. Es regt alle anderen in der Gruppe auf, sie glauben, es lockt die Sturmtruppen an. Stalingrads Universität für Straßenkämpfe, wie sie sich nennen. Auf mich hatte es lange Zeit einen gegenteiligen Effekt – das Wort Universität machte mich auf der Stelle warm.
    Es ist lange her jetzt. Tage, die sich hinziehen wie Jahre.
    In einer solchen Lage muss man schreiben. Kurz bevor man aufbricht, um zu sterben.
    Ich kenne kein einziges Gesicht mehr in der Gruppe. Dennoch hat sie denselben Namen. Es muss bedeuten, dass ich der einzige Überlebende der ursprünglichen Mitglieder bin. Alle anderen sind gefallen. Alle. Ja.
    Auch Jochen war vorher nicht in unserer Gruppe. Er war ein Flieger, der hart gelandet war, nichts Schickes wie Pilot, sondern einer, der Bomben abwirft, mehr oder weniger von Hand: ein Bordschütze. Er hatte oben im Stuka die Kontrolle verloren und angefangen zu weinen, statt Bomben abzuwerfen. Die Strafe war nicht Hinrichtung, nicht Kriegsgericht, die Strafe waren wir. Die Niedrigsten der Niedrigen. Er bewegte sich unter uns wie ein gefallener Engel. Der Fall aus der abstrakten, entlegenen, hohen Gewalt in die konkrete, nahegehende, niedrige wurde zu groß. Er ist zu groß für alle Menschen. Außer möglicherweise für General Rodimtsev.
    Auch Jochen starb, aber er schenkte mir noch das Bild der Stadt von oben, und sooft ich kann, fliege ich dorthin.
    Bis in dreißig Kilometer Höhe ist die Sonne verdunkelt. Es sind die Ölzisternen, die brennen und brennen. Dreißig Kilometer schwärzester Petroleumrauch. Stalingrad ist von den Rückständen dessen eingehüllt, worum es in dem ganzen Feldzug geht: Öl. Schwarze Fossilien verdecken die Sonne, als ob der Gott, an den ich nicht glaube, sein Auge verhüllte. Als wollte er sich den Anblick einer Welt ersparen, die sich selbst auf dem Scheiterhaufen verbrennt. Es hat immerhin recht lange gedauert, sie zu erschaffen.
    Die Flugzeuge kommen von Nordwesten herein und müssen dann durch den schwarzen Rauch nach unten gehen, um ihre Ziele zu erkennen. Sie sind immer wie von Neujahrsraketen umgeben, aber wenn man im Flugzeug sitzt, ist es etwas ganz anderes. Jochen hat es wie eine Sternenexplosion beschrieben. Die Luftabwehrraketen werden mehr und mehr, und von jenseits der Wolga gleiten immer häufiger die U2-Maschinen herein. Sie sind der materialisierte Schrecken. Man hört sie schon von weitem, sie hören sich wie Nähmaschinen an, dann wird es ganz still. Es ist eine Art Hohlraum in der Zeit. Ein auditives Vakuum. Der U2-Pilot schaltet den Motor aus und gleitet aufs Ziel zu.
    Was man sieht, wenn man in das Inferno des schwarzen Rauchs hinabgesunken ist, ist ein diffuses geschwärztes Chaos aus Feuer und Ruinen. Ein naturhistorisches Museum mit Skeletten bizarrer Lebensformen, immer auf allen Seiten von Flammen umgeben. Sie sehen so klein aus, hat Jochen gesagt, wie Streichhölzer, die kurz vor dem Ausbrennen sind. Dann kommt es darauf an, nicht das falsche Ziel zu bombardieren. Wir legen die roten Fahnen mit den schwarzen Hakenkreuzen in den weißen Kreis, um nicht von unseren eigenen Leuten bombardiert zu werden. Anderseits sind es für die U2-Maschinen die reinsten Zielscheiben. Man hat die Wahl.
    Jochen starb in einer Kloake. Wir gerieten in Nahkampf mit einer Sturmtruppe in einem der Abwasserkanäle, in denen sie verstärkt mit Flammenwerfern und Dynamitstangen unter unsere Stellungen vorrücken. Sein Kopf wurde von einem scharf geschliffenen Spaten gespalten. Das einzig Versöhnliche in seiner Existenz

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