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Totenmond

Totenmond

Titel: Totenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Koch
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Nachbarn nicht auffielen. Besser, hatte Papa gedacht, wenn sie sich über zu laute Musik mokierten. Von einigen der Gitarrensoli kannte der Mann noch heute jede Note – vor allem von denen, die im Hintergrund liefen, wenn Papa den Jungen in die eiskalte Badewanne gesetzt und mit dem Kopf bis zur Bewusstlosigkeit unter Wasser gedrückt hatte.
    Papa hatte eine große Plattensammlung gehabt. Zwei Regalwände, beide randvoll. Er jobbte nebenbei als Alleinunterhalter und DJ. Musik war seine große Leidenschaft. Die Platten waren alphabetisch geordnet und in Singles, LPs und EPs sortiert. An guten Tagen hatte Papa dem Jungen erklärt, woher der Rock ’n’ Roll gekommen war – ein Baby, das Country und der Blues gemeinsam hatten. Das Beste aus der weißen und schwarzen Musik. Gemeinsam hatten sie Can gehört, die legendäre deutsche Band, und der Junge hatte gelernt, dass große Musik nicht nur aus dem perfekten Zusammenspiel der Musiker erwachsen konnte, sondern auch aus dem Kampf der Instrumente gegeneinander. An schlechteren Tagen wiederum, nun, da hatte Papa den Gürtel ausgepackt und Jimi Hendrix die Stratocaster.
    Der Digitalwecker neben dem Computer piepste und riss den Mann aus seinen Gedanken. Er setzte sich das Headset auf. Zeit für DJ Wolfman – in Anlehnung an den berühmten amerikanischen DJ Wolfman Jack. Natürlich gab es noch einen weitaus treffenderen Grund dafür.
    DJ Wolfman öffnete die Internetverbindung und stellte sich vor, wie Alexandra zu Hause den Internet-Stream verfolgte. Vielleicht würde sie an den Spielplatz denken oder an die Schritte in der Nacht auf dem Weihnachtsmarkt. Ob sie es genauso aufregend gefunden hatte wie er selbst?
    »Hallo, Freunde der Nacht«, sprach er schließlich in das Mikro, »dieser eiskalten letzten Nacht des Jahres. Hier ist euer alter Kumpel Wolfman, und hier ist der erste Song für diesen Silvesterabend – gebt dem guten alten Lizard King ein warmes Willkommen.« Schließlich klangen die ersten holpernden Takte aus den Monitorboxen. Wenig später folgte die Stimme von Jim Morrison. Blue Moon of Alabama …
    DJ Wolfman schmunzelte und lehnte sich im Stuhl zurück.

39.
    A lex’ Mini hielt in der Parklücke. Sie zuckte zusammen, als hinter ihr einige Böller zündeten. Dann zischte es, und im Rückspiegel sah sie den Funkenregen einer aufsteigenden Rakete. Kinder, die es nicht abwarten konnten. Jugendliche, die mit einer Flasche Wodka und einer Tasche voller Feuerwerk durch die Straßen zogen.
    Bist du bereit? Alex atmete tief durch. Ja, bist du.
    Sie zog den Zündschlüssel ab, griff nach ihrer Handtasche, öffnete die Tür, zog den schwarzen Mantel wie eine wärmende Decke um sich und stöckelte vorsichtig über den Bürgersteig, um nicht in eine Pfütze aus Schneematsch und Streusalz zu treten und die sündhaft teuren Pumps zu ruinieren oder umzuknicken. Der Knöchel wurde nicht mehr von einem Verband stabilisiert. Pumps und Verband – das ging nun mal gar nicht.
    Vor dem Mehrparteien-Altbau mit der Hausnummer 78 stoppte sie und suchte den Klingelknopf. Bevor sie ihn drückte, atmete sie noch einmal tief durch und betrachtete sich im Licht des gerade angesprungenen Bewegungsmelders in der spiegelnden Glasscheibe der Haustür. Die Lippen knallrot geschminkt. Smokey Eyes. Die rabenschwarzen Haare offen. Unter dem Mantel ihr neues Kleid.
    Ein zufriedenes Lächeln huschte ihr über Gesicht. Dann schellte sie bei Lindberg und wunderte sich kurz über den verblichenen und halb abgerissenen Hannah-Montana-Aufkleber auf Jans Klingelschild. Der Öffner summte. Mit klopfendem Herzen betrat Alex das Treppenhaus und ging hinauf in den ersten Stock, wo Jan sie bereits mit einem Lächeln an der offen stehenden Wohnungstür empfing. Er trug einen eng sitzenden dunkelblauen Anzug, braune Wildlederschuhe und einen darauf abgestimmten Gürtel sowie ein blaues Hemd. Seine Haare waren verwuschelt und das Kinn unrasiert, was ihm einen etwas verwegenen Ausdruck verlieh.
    Ihm entfuhr ein »Wow«, und Alex entnahm dem Strahlen seiner Augen, dass ihr Aussehen den gewünschten Effekt erzielte. Sie fröstelte gespielt, als Jans Arme sich zur Begrüßung um sie schlossen. Spürte seinen warmen Atem, als er ihr einen Kuss auf die Wange hauchte.
    Jan griff nach Alex’ Hand. »Komm schnell rein!« Er zog sie in die Wohnung und half ihr kurz darauf aus dem Mantel. Seine Augen weiteten sich, und er trat auf den Holzdielen im Flur einen Schritt zurück, um Alex in Gänze betrachten zu

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