Totenmontag: 7. Fall mit Tempe Brennan
Schädel und Unterkiefer noch einmal vor Augen. »Die Schnitte umkreisen die rechte Ohröffnung.«
»Bei welchem Skelett?«
»Bei allen dreien.«
»Aber an anderen Stellen ist nichts zu sehen?«
»Nein.«
»O Scheiße. Glauben Sie, dass da jemand Ohren abgeschnitten hat?«
Der Gedanke war mir auch schon gekommen.
»Ich weiß es nicht.«
Nachdem ich LaManche berichtet hatte, was ich von Art Holliday erfahren hatte, brachte ich den Rest des Nachmittags mit meinen Pizzakellermädchen zu. So betrachtete ich sie inzwischen. Als meine Mädchen. Meine verlorenen Mädchen.
Ich untersuchte jeden Knochen, jedes Fragment und jeden Zahn. Ich studierte die dentalen und skelettalen Röntgenaufnahmen. Ich siebte die Erde noch einmal. Ich brütete über den Knöpfen.
Als ich mich schließlich aufsetzte, waren die Fenster dunkel und die Gänge still. Die Uhr zeigte zwanzig nach fünf.
Ich hatte absolut nichts Neues herausgefunden.
Ich schloss die Augen.
Es machte mich sehr traurig, dass es mir nicht gelang, diesen Mädchen Namen zu geben. Und wütend, dass es mir nicht gelang, Claudel zufrieden zu stellen. Frustriert, dass es mir nicht gelang, die Knöpfe zu verstehen. Und es machte mir ein schlechtes Gewissen, dass ich die Schnittspuren nicht gesehen hatte, bevor Bergeron mich darauf hinwies.
Wie hatte ich diese Spuren nur übersehen können? Ja, man hatte mich sehr oft unterbrochen. Ja, ich hatte simultan an verschiedenen Aspekten des Falls gearbeitet. Ja, die Spuren waren fast unsichtbar. Ja, zumindest ein Schädel war fragmentiert. Aber wie konnte etwas so Wichtiges meiner Aufmerksamkeit entgehen?
Versagen, Versagen auf der ganzen Linie und kein Tropfen zu trinken.
Versagen mit Anne.
Versagen mit Ryan.
»Ryan«, schnaubte ich.
»Ja?«
Ich riss die Augen auf.
Ryan stand in der Tür, die Jacke an einem Finger über der Schulter. Er musterte mich mit einem Ausdruck, den ich nicht deuten konnte.
Ryan hob die freie Hand.
»Ich weiß. Was willst du denn hier? Richtig?«
Ich wollte etwas sagen. Ryan schnitt mir das Wort ab.
»Ich arbeite unten.« Ryan grinste. »Ich bin Polizist.«
Ich setzte mich auf und schob mir die Haare hinter die Ohren.
»Weißt du schon was Neues über Louise Parent?«
»Nein.«
»Hast du Rose Fisher gefunden?«
Das Grinsen verschwand. »Nein. Es sieht nicht gut aus.«
»Glaubst du, dass sie tot ist?«
»Sie ist vierundsechzig. Und seit fast einer Woche verschwunden.«
»Was für ein Mutant bringt ältere Damen um?«
Ryan betrachtete meine Frage als rhetorisch. »Läuft bei dir zu Hause noch immer die verstärkte Überwachung?«
»Ja.« Wenn du mich besuchen kommen würdest, wüsstest du das. »Willst du damit andeuten, dass ich eine ältere Dame bin?«
»Ich will nur, dass du die Augen offen hältst, Tempe.«
»In den letzten Tagen mache ich sie kaum einmal zu, Andy.«
Ryan ging nicht darauf ein.
»Ich habe vor, bei Fishers Haus vorbeizufahren. Dachte, du willst vielleicht mitkommen.«
Wollte ich.
Ich deutete auf die Skelette. »Ich bin ziemlich beschäftigt.«
»Die laufen dir nicht mehr davon.« Wieder ein jungenhaftes Grinsen.
Wieder die interne Debatte. Konfrontation? Umgehung?
Ich beschloss, es offen zu lassen. Soll Ryan den ersten Zug machen. Soll er angreifen oder ausweichen.
»Stellst du dir eigentlich je selber Fragen, Ryan?«
»Klar. Was ist mit Alice Cooper passiert?«
»Wichtige Fragen.«
»Wer war Alice Cooper?«
»Ich meine es ernst.«
»Ich auch.« Ryans Stimme war sachlich und ruhig. »Willst du mitfahren?«
Zum Teufel mit Beziehungen. Zum Teufel mit Ryan. Betäube den Schmerz. Mach deine Arbeit.
Ich zog den Labormantel aus, steckte den Schlüsselbund in die Handtasche und nahm meine Jacke vom Haken.
»Gehen wir.«
Während Ryan und ich durch den Stoßverkehr krochen, war die Atmosphäre so entspannt wie eine zusammengerollte Schlange. Eine Unterhaltung kam nicht zustande.
Vertraute Bilder galoppierten mir durchs Hirn. Ryan am Strand. Ryan und ich in Guatemala. Ryan in meinem Bett.
Ryan und seine College-Göre.
Irgendwann streifte Ryans Hand mein Knie. Eine Rakete schoss direkt in meine Libido.
Ich schloss die Augen und gab mir große Mühe, mich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Tief durchatmen.
Als wir in Candiac ankamen, waren meine Halsmuskeln angespannt wie Gitarrensaiten.
Bei jedem Fenster in Rose Fishers Haus waren die Rollos heruntergelassen. Aus einem sickerte gelbes Licht.
»Hm.« Ryan fuhr an den Bordstein und stellte
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