Totennacht (German Edition)
Beweggründe dahinter wie am Vortag, als er seine Lunchbox angeblich verloren hatte? Wie auch immer, da stimmte etwas nicht. Und als sie von der Schule zum Friedhof fuhr, kam ihr immer wieder eines in den Sinn.
«Ich mache mir Sorgen, Dad», sagte sie am Grab ihres Vaters. «Es scheint, dass er sich in seiner Klasse nicht wohlfühlt. Wahrscheinlich wird er gehänselt und kann damit nicht umgehen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Du wüsstest es, davon bin ich überzeugt.»
Tatsächlich hatte ihr Vater sie immer wieder erfolgreich vor anderen Kindern in Schutz genommen, allerdings mit dem Ergebnis, dass kaum jemand mit ihr befreundet sein wollte. Jungs schon gar nicht. Tochter eines Polizisten zu sein war die sicherste Garantie dafür, ledig zu bleiben.
Als das Thema James abgehandelt war, kam sie auf den eigentlichen Grund ihres Besuches zu sprechen.
«Du glaubst nicht, was mir in die Hände gefallen ist», sagte sie. «Der Fall Charlie Olmstead. Verrückt, nicht wahr? Jetzt stellt sich auf einmal heraus, dass er womöglich gar nicht ertrunken ist. Schlimmer noch, er war nicht das einzige Kind, das spurlos verschwand.»
Sie geriet wieder in Wut, was sie selbst überraschte. Schließlich hatte Nick durchaus recht: Damals war alles anders gewesen. Ihrem Vater und Deputy Peale konnte kaum verübelt werden, dass sie Charlies Verschwinden als tragischen Unfall abgetan hatten. Trotzdem wollte sie ihn nicht gänzlich freisprechen. Das ließ ihr Gewissen nicht zu.
«Warum hast du nicht genauer hingesehen?», fragte sie den Granitstein, der den Namen ihres Vaters trug. «Wenn für Charlie auch jede Hilfe zu spät gekommen wäre, hättest du immerhin fünf anderen Jungen das Leben retten können.»
Ihr war bewusst, dass es keine zufriedenstellende Antwort auf ihre Frage gab. Sinnvoller war es, danach zu fragen, was sie nun noch tun konnte. Und das stand für sie fest. Sie wollte sich voll und ganz der Aufklärung dieser Angelegenheit widmen.
Als sie das schützende Laubdach der Ahornbäume verließ, hatte der Nieselregen nachgelassen, sodass sie darauf verzichten konnte, den kaputten Schirm aufzuspannen.
Auf dem Weg zum Parkplatz fiel ihr ein relativ frisches Grab ins Auge. Der aufgeworfene Erdhügel war noch ohne jeden Pflanzenbewuchs, und der schiefergraue Grabstein schien erst vor kurzem behauen worden zu sein. Als Kat den Namen darauf erblickte, blieb sie wie angewurzelt stehen.
Maggie Olmstead.
Es tat ihr leid, dass sie nicht noch einen dritten Blumenstrauß mitgebracht hatte. Stattdessen legte sie ein Versprechen ab.
«Ich werde die Wahrheit herausfinden. Das schwöre ich, bei Gott.»
Anders als vor dem Grab ihrer Eltern kam sie sich jetzt albern vor, am Grab einer Frau, die sie kaum gekannt hatte, ihre Gedanken laut auszusprechen. Verschämt wandte sie den Blick ab und starrte auf die Grasnarbe rechts neben dem Grabstein. Wie überall auf dem Friedhof wucherte dort die Bluthirse ungehemmt. An dieser Stelle war sie so hoch, dass Kat die kleine Marmortafel auf dem Boden erst auf den zweiten Blick auffiel – ein Platzhalter, der eine Grabstätte reservierte, vermutete sie.
Sie bückte sich und strich die Grashalme beiseite, um lesen zu können, was darauf geschrieben stand. Ihre Finger fuhren über Buchstaben und Ziffern, die vor vielen Jahren in den Stein gemeißelt worden waren.
Charles Olmstead, 1959–1969
Darauf war Kat nicht vorbereitet gewesen. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie andere mit dem Verlust einer geliebten Person umgingen, die spurlos verschwunden war. Kat hatte schon häufig Nick fragen wollen, wie sich das Verschwinden seiner Schwester auf das Familienleben ausgewirkt hatte, doch war sie dieser Frage letztlich immer wieder ausgewichen, weil sie eine Antwort darauf im Grunde fürchtete.
Maggie Olmstead hatte ihrem Sohn jedenfalls eine Grabstätte reservieren lassen. Zu welchem Zeitpunkt wusste wahrscheinlich nicht einmal Eric. Dass sie es getan hatte, warf allerdings eine Frage auf, die sich nicht unterschlagen ließ. Sie nagte an ihr, als sie zum Wagen zurückkehrte, den Regenschirm in den Kofferraum warf und geradewegs zum Haus der Olmsteads fuhr. Kaum hatte sie sich Einlass verschafft, platzte es aus ihr heraus.
«Was hat deine Mutter auf dem Friedhof begraben, wenn nicht den Leichnam deines Bruders?»
Eric war nackt. Er trug nichts als ein Handtuch über der linken Schulter, was für Kat, die ihn am Fuß der Treppe überraschte, nicht als Kleidungsstück zählte.
Für eine
Weitere Kostenlose Bücher