Totenprinz - Westendorf, C: Totenprinz
auf seine neu eingegangenen Mails.
Amanda, die naive Gans, hatte sich für ihre Antwort nicht viel Zeit gelassen. Sie schien so dringend einen neuen Mann zu brauchen, dass sie nach seiner letzten Mail auf der Stelle eingeknickt war. Ja, mit ihr hatte er sich zweifellos die Richtige ausgesucht. Hatte er am Anfang noch gezweifelt, ob sich ein Versuch lohnen würde, hatten ihm gleich die ersten Mails, die sie miteinander getauscht hatten, ihre wahre Natur gezeigt. Sie wollte sich unterordnen, sie wollte leiden. Ja, schon in zwei Tagen
würde er ihr ihren größten Wunsch erfüllen und bis dahin weiter brav seinen Haferschleim essen, damit er im entscheidenden Moment auch stark und gesund war.
Diesmal würde er keine Schwäche mehr zeigen, denn wer nahm schon umgekehrt Anteil an seinem Leben? Wer zeigte Mitgefühl mit ihm, wenn es ihm schlecht ging?
Endlich würde er in die Tat umsetzen, was zu tun er sich vorgenommen hatte, seitdem er aus Melanies Schatten herausgetreten war. Und wenn er die vierte Prüfung erst bewältigt hätte, würde er einen weiteren entscheidenden Schritt auf seinem Weg in die Freiheit vorangekommen sein.
Gedankenverloren beobachtete er den belebten Verkehr auf der sechsspurigen Straße, die direkt unter seinem Fenster vorbeiführte. Obwohl es noch früher Nachmittag war, hatten die meisten Autos bereits ihre Scheinwerfer eingeschaltet. Es war einer dieser nebligen, trüben Tage, an denen es nicht richtig hell werden wollte, denen er inzwischen aber sogar etwas abgewinnen konnte. Brauchte er sich doch nur daran zu erinnern, wie schlecht es ihm im November vergangenen Jahres noch gegangen war.
Damals hatte er geglaubt, ohne Melli nicht weiterleben zu können. Hatte sich angestrengt, ihr zu gefallen, obwohl er es Melli sowieso nie hatte recht machen können. Ständig hatte sie ihn mit anderen Männern betrogen. Damals hatte er noch gehofft, sich irgendwie mit der Situation arrangieren zu können, und es genossen, an den Abenden neben ihr zu liegen.
In solchen Momenten war Melli beinahe mütterlich gewesen. Hatte ihn nicht bedrängt. Doch er brauchte nur daran zu denken, wie klein er sich für diese Fotze gemacht
hatte, und schon krampfte sich sein Magen wieder schmerzhaft zusammen. Was für eine jämmerliche Figur war er doch gewesen! Hatte sich zum Opfer machen lassen und aus Erleichterung darüber, dass Melli ihn nur noch selten zum Sex drängte, zu allem »Ja und Amen« gesagt.
Während jeder andere es ihr anständig besorgen und seinen Samengestank zwischen ihren Beinen lassen konnte. So hatte er einen hohen Preis dafür bezahlt, dass Melli trotz allem bei ihm blieb.
Schon von Kindheit an war sein Geruchssinn stärker ausgeprägt gewesen als der anderer Menschen. Er war in der Lage, einen Zirkus, seine Planwagen und Tierkäfige, schon lange bevor sie in die Stadt einzogen, zu riechen. Und später erkannte er jede Frau über den Duft ihrer Fotze hinaus auch am Geruch ihres Menstruationsblutes.
Wie auch immer, das Arrangement, mit Mellis Betrug zu leben, wenn sie ihn dafür in Ruhe ließ, schien ihm allemal besser zu sein, als allein zu leben oder in einem fort Mellis mühsam unterdrückter Enttäuschung ausgesetzt zu sein. Oder der Art und Weise, in der sie ihre Unzufriedenheit zu überspielen suchte, wenn es mit ihnen im Bett wieder einmal nicht klappte.
»Komm, das ist doch nicht so schlimm«, versuchte sie, ihm Mut zuzusprechen. »Beim nächsten Mal läuft es bestimmt besser. Lass uns einfach nur beieinanderliegen. Ich liebe dich.«
Vielleicht hätte er ihr Arrangement sogar noch länger ertragen, wenn Melli eines Tages nicht zu weit gegangen wäre.
Denn während sie sich eines Abends entspannt in seinen
Arm kuschelte, hatte er plötzlich einen wohlvertrauten Geruch an ihr wahrgenommen. Ja, es gab keinen Zweifel, Melanie roch tatsächlich genauso wie eine der Wichsvorlagen seines jüngeren Bruders Mucki.
Warum, verdammt, hatte sie ausgerechnet mit dem kleinen Angeber herumvögeln müssen? Ausgerechnet mit Mucki, den er seit seiner Kindheit hasste.
Wofür es mehr als einen guten Grund gab. Da hatte er doch sofort wieder das Bild vor Augen, wie er vor der Wiege des Bruders stand und mühsam die Tränen zurückhielt. Seine Mutter hatte ihm soeben eine deftige Ohrfeige verpasst, und das nur, weil er versucht hatte, seinen kleinen Bruder zu füttern. Wobei ihm niemand erklärt hatte, dass ein Regenwurm aus dem Garten, den er auf Muckis Gesicht gelegt hatte, dafür völlig ungeeignet
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