Totenrache und zehn weitere Erzählungen
hereinlugen konnte, fühlte er unter seinem Fuß eine schlaffe Masse. Joey schaute zu Boden und erkannte ein Bündel, das er für ein Laken hielt, bis er in die Hocke ging und Konturen sich vor seinem Auge entblätterten. Entsetzt hielt er die Luft an. Dort lag ein Tier, ein Hund, ein toter Hund, der ein Opfer von Fliegen und Luft gefunden war.
Mehr Ekel als Mitleid war in ihm, als er sich hastig wieder aufrichtete und die Küche und den vor Hunger und Durst gestorbenen Hund verließ. Er betrat ein anderes Zimmer, das vom Raum mit dem Fernseher abzweigte. Es war heller hier und allein dieses Geschenk, das seinen Augen bereitet wurde, lockte Joey über die Schwelle, fort aus der Finsternis und vom Kadaver weg. Auch war hier die Luft besser. Joey bemerkte das offenstehende Fenster, das den Vorhang durcheinander wirbelte, und sog einen frischen Schwall Sauerstoff ein, sodass ihm schwindlig wurde von der Überdosis. Offensichtlich ein Arbeitszimmer, auch wenn die Vorstellung, Stanton wäre einer ernsthaften Beschäftigung nachgekommen, beinah rührend war. Aber er sah Regalstreben mit vollgestopften Ordnern und am Fenster einen Schreibtisch, auf dem Papiere und ein Stapel Bücher lagen. Joey trat näher zu dem Tisch hin und entdeckte sogleich ein Blatt Papier, auf dem ein klobiger Brieföffner lag. Dort stand etwas in großen, ungelenken Buchstaben, die bewiesen, dass Stanton selten handschriftliche Notizen gemacht hatte. Joey zog das Papier unter dem Brieföffner hervor und las den kurzen Hinweis: Ich wollte es nicht tun. Gott ist mein Zeuge!
Darunter stand in kleinerer Schrift eine Adresse: Industry Street neun.
Langsam und mit einem in die Ferne gerichteten Blick ließ Joey das Papier sinken. Diese verzweifelten Worte, dachte er, und dann der Selbstmord. Welches Unheil hatte der Mann angerichtet?
Die Industry Street befand sich in einem alten, zum Teil aufgegebenen Gewerbegebiet außerhalb von Hemingford, wie Joey nach einem Blick in den Stadtplan feststellte. Dunkel entsann er sich, dass er vor langer Zeit manchmal dort gewesen war, zuerst mit seinem Vater, der ihm die Gebäude erklärt hatte, später mit seinen Freunden, mit denen er manchmal, wenn sie sich unbeobachtet wähnten, die vor Schmutz starrenden Fenster der Fabrikhallen eingeworfen hatte. In seinem kindlichen Eifer hatte er mit großem Interesse den Weg der Lastwagen und anrollenden Güterzüge verfolgt. Er konnte sich ohne große Mühe an den betäubenden Geruch von aufwirbelndem Staub und Diesel erinnern, der sich in seinen Kleidungsstücken einnistete, und an die kräftigen Männer, die so finster dreinschauten, als empfänden sie ihre Arbeit als Strafe, aber zu den Kindern meist nachsichtig waren.
Vor mehr als zehn Jahren waren die ersten Unternehmen fortgezogen oder aufgegeben worden und damit wurde das Ende der Blütezeit dieser Gegend eingeläutet. Die Zulieferer der großen Werke kehrten der Industry Street ebenfalls den Rücken, wodurch der Prozess des Zerfalls drastisch beschleunigt wurde. Heute war jeder Ansatz des früheren Glanzes völlig verschwunden. Nur wenige Firmen hatten noch ihren Sitz hier, in der Hauptsache kleine Unternehmen, welche die Räumlichkeiten der alten Fabriken nutzten, die sie zu einem Spottpreis gekauft oder angemietet hatten.
Die Industry Street war die Hauptstraße des großen, unübersichtlichen Areals, sie wurde in regelmäßigen Abständen von kleineren Straßen und verrosteten und mit Pflanzen bewucherten Eisenbahnschienen durchkreuzt, sodass es aus der Vogelperspektive wie ein Geflecht wirken musste. Die nicht mehr befahrenen Flächen und die Parkplätze vor den Hallen waren längst wieder von der Natur zurückerobert worden. Der Anblick der Vergänglichkeit erinnerte Joey an Stanton, dessen Fleisch schneller und radikaler dahinschwand als der Asphalt. Für eine Weile kreisten seine Gedanken um den Toten, aber sie fanden keinen neuen Anhaltspunkt.
Er wünschte sich, er hätte den Mann gekannt, als noch Luft und Träume in ihm gewesen waren. Wie war er gewesen? Etwa ein labiler Mensch, den schon ein kleines Missgeschick an den primitiven Galgen befördert hatte? Die scheinbare Zurückgezogenheit, in der er gelebt hatte, deutete darauf hin. Vielleicht weniger labil als verdorben, dachte Joey, der das Bild des verhungerten Hundes vor Augen hatte
Plötzlich blieb er stehen und schreckte aus seinen Gedanken auf, der Hauch eines unhörbaren Fluches quetschte sich über seine zusammengepressten Lippen, während
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