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Totenrache und zehn weitere Erzählungen

Titel: Totenrache und zehn weitere Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Frank
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Wrack hatte den Mund geöffnet; manchmal fingen sich Böen des Windes in ihm und zeugten eine traurige Melodie. Das flackernde Feuerzeuglicht präsentierte dem Betrachter eine blauschwarz gefärbte Zunge, die sich aus dem Mund herausgewunden hatte. Der Kontrast zum blutleeren Gesicht hätte nicht grässlicher sein können.
    Es fiel ihm nicht leicht, der Faszination zu widerstehen, die in der Luft lag. Er blieb so lange beim Leichnam, bis die Kälte seine Glieder fühllos machte und seine Augen träge vor Müdigkeit wurden.
    Schließlich ging er heim, während seine Gedanken um Tod und Verzweiflung schwirrten.

    Es war ein aussichtsloser Kampf, den der Selbstmörder führte. Er diente den Tieren als Futtertrog. Sie kamen und nahmen, was sie brauchten. Die ersten warmen Frühlingstage taten ihr übriges. Der einzige menschliche Besucher war Joey. Oft kam er, wenn die Sonne aufging, und er verabschiedete sich erst bei Anbruch der Dämmerung und wurde in dieser Zeit Zeuge menschlicher Vergänglichkeit. Es dauerte eine Woche, bis er den Wunsch verspürte, mehr über den Mann zu erfahren. Joey war sicher, dass sein Vermächtnis Hinweise barg, die seinen rätselhaften Tod entschlüsseln konnten.
    Joey verließ seinen weichen Beobachtungsposten aus Gras und Moos und näherte sich dem baumelnden Mann, dessen ungeschütztes Gesicht neue Verwüstungsspuren aufwies. Das linke Auge war von Vögeln herausgehackt worden, das Fleisch an Wange und am Kinn war stellenweise herausgerissen worden. Der Verlust jeglicher Stärke, welche den Mann früher womöglich ausgezeichnet hatte, wurde deutlich, als durch Joeys Annäherung eine Spinne die weiche, vor den kalten Abenden schützende Mundhöhle verließ.
    Joey verzog das Gesicht und für einen Moment empfand er panische Angst vor seinem eigenen Tod. Die Gewissheit von menschlicher Großartigkeit ging hier und jetzt zum Teufel. Ein übler Geruch ging von dem Mann aus, bemerkte er, als er noch näher herantrat. Er war streng und bitter und Joey musste eine Weile den Atem anhalten, um sich daran zu gewöhnen. Eine Entschuldigung floss ihm unhörbar über die Lippen, als er am Reißverschluss zog und die zerschlissene Jacke öffnete. Darunter sah er kein weiteres Kleidungsstück. Das musste ein weiterer Hinweis auf den Schock sein, überlegte er, der den Mann trotz der damals vorherrschenden Kälte zum Ort seines Todes geführt hatte. Die Brust war schmal und knöchern, von Oasen farbloser Haarbüschel umgeben, das Fleisch so bleich wie der Bauch eines Fisches; und genauso kalt. Joey entfuhr ein leiser Entsetzensseufzer, als sein Handrücken mit dem Toten in Berührung kam.
    Es dauerte eine Weile, bis er seine Hände erneut ausstreckte und in den Taschen der Jacke wühlte. Er hatte die Augen geschlossen, während er das tat, und er dachte dabei an Dinge, die schöner waren als Leichenschändung. Er stellte fest, dass es leichter als vermutet war, den menschlichen Geist in die Irre zu führen. Sobald sein Verstand erneut der Spur des Grauens hinterherschnüffelte, lockte ein unbekannter Instinkt ihn wieder davon fort. Vielleicht war es die Logik eines Schwachsinnigen, die er da anwandte, oder die eines Mannes im Schlachthaus oder eines Psychiaters: Er wusste es nicht, aber es erfreute ihn, wie spielerisch einfach das Prinzip der Abstumpfung umzusetzen war.
    In der Jacke fand er nichts. Beinah bereitwillig tastete sich eine Hand in eine der vorderen Hosentaschen voran. Ihre Fingerspitzen waren empfindsam genug, das Oberschenkelfleisch zu ertasten, welches kalt und schlaff war. Dem Toten widerstrebten die Berührungen. Er zuckte am Seil hin und her und seine Hände und Füße berührten wiederum Joey.
    Der Mann besaß eine Brieftasche und einen Schlüsselbund. Die Schlüssel steckte Joey ein, ohne einen Blick auf sie zu werfen, dann trat er einige Schritte zurück, bis das Licht günstiger, der Gestank erträglicher wurde. Die Brieftasche bestand aus altem, abgegriffenem Leder, das an den Nähten stellenweise aufgeplatzt war. Ihr Inhalt war spärlich. Joey fand eine Kreditkarte, etwas Geld, das er achselzuckend einsteckte, Quittungen für Lebensmittel und, worauf er gehofft hatte, den Ausweis des Mannes.
    Stanton, las er, Robert Stanton war der Name des Toten. Das Foto mochte vielleicht drei Jahre alt sein. Ein Bild aus zweifellos glücklicheren Tagen; Stanton lächelte und strahlte Zufriedenheit aus. Er hatte in Hemingford gewohnt, kein Ort, der einen Besuch lohnte, wie Joey wusste, aber es

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