Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Totenrache und zehn weitere Erzählungen

Titel: Totenrache und zehn weitere Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Frank
Vom Netzwerk:
unerfreulicher. Vor ihm wurden Nuancen des Waldes sichtbar, dessen Schweigsamkeit bei angenehmeren Temperaturen Anziehungspunkt für Jogger und Liebespaare war. Joey verließ den kieselübersäten Pfad und stapfte über eine Wiese direkt in den Wald, der ihn für eine weitere Nacht und einen weiteren Morgen der Stadt ausliefern würde. Main Church war kein Ort, der einem Aussicht auf Zerstreuung bot, und er hasste es, dort zu sein. Die Leute lebten, aßen und starben in dem Kaff, das von Wäldern und kalten Seen umgeben war, und offensichtlich waren sie zufrieden mit diesem Schicksal.
    Er dachte an Ken, seinem einzigen Freund, und an ihre langen Gespräche, die sie gelegentlich führten. Oft waren sie einander gleich in ihren Köpfen, wenn es darum ging, dieses Prinzip purer Mittelmäßigkeit zu unterwandern. Im Winter, wenn das Kaff seine ganze Hässlichkeit zur Schau stellte, war es ein unfairer Kampf; ihre Träume von Cadillacs und New York wurden unter einem eisigen Leichentuch aus schlechter Laune begraben, das sie mit Alkohol und Ausschweifung wegzuschmelzen versuchten.
    Unversehens lachte er auf, als wollte er den Abend am Ende eines unergiebigen Winters verhöhnen, während der Wald ihn vollends schluckte. Wenn ihm wirklich etwas an diesem Wald gefiel, dann waren es die nächtlichen Geräusche. Es war nie wirklich still hier. Für einen guten Lauscher gab es Dutzende von Geräuschen zu unterscheiden und Joey kannte sie alle. Die Flucht der durch seine Schritte aufgeschreckten Tiere, das Aneinanderreiben der Zweige im Wind, fallendes Laub. Schon als Kind war er ein talentierter Zuhörer gewesen; andere in seinem Alter hatten gezetert und gebrüllt; er hatte ihnen zugehört.
    Es war die einzige Waffe, die er besaß, und er brauchte sie, um die Schlachtfelder zu überleben. Seine Augen waren zu sanft, um Kontrahenten zu verschrecken, seine Hände zu schmal, um sich ihrer zu bedienen, sein Körper war zu wenig narbenübersät, um Geschichten zu erzählen. Es ergab wenig Sinn, über die Rolle des Zuhörers hinauswachsen zu wollen.
    Und genau dies führte ihn in dieser Nacht auf eine neue Fährte. Das Geräusch, das sich geheimnisvoll in seine Gedanken schlang, war ihm unbekannt: ein Reiben, ein Knirschen. Joey blieb stehen und versuchte, das funkelnde Mondlicht zu seinem Vorteil zu nutzen. Und tatsächlich: Dort vorn, kaum zwanzig Meter von ihm entfernt und geschützt von Dickicht und Dunkelheit, sah er etwas; eine Regung vielleicht, vielleicht eine Farbe.

Er bewegte sich darauf zu und duckte und reckte sich dabei und schließlich fiel sein Blick auf den Mann, der dort stand. Oder nein, korrigierte er sich sogleich und ein Schauer glitt über seinen Rücken, der Mann hing. J oey streifte das Geäst beiseite, das vor seinem Gesicht war, und ging näher hin. Im Licht des Mondes, das schwach durch die nackten Kronen der Bäume fiel, konnte er den Mann nun besser sehen. Er baumelte sacht im Wind, der den unsteten Rhythmus in Gang hielt.
    Joey fingerte sein Feuerzeug aus der Hosentasche und führte die Flamme nah an den Selbstmörder heran. Das Seil um seinen Hals sah neu und ungebraucht aus, als wäre es eigens für den Zweck, ein Leben zu beenden, gekauft worden. Es hatte dem weichen Fleisch am Hals schlimme Verletzungen zugefügt; die Wunde schimmerte in sanften, warmen Farbtönen.
    Das zuckende Licht, das im Wind zu verlöschen drohte, entlockte dem Fund schreckliche Details. Am Ende seines Lebens war der Mann ein menschliches Wrack gewesen. Das wurde an der alten, ausgebeulten Kleidung sichtbar, die ganz das Flickwerk eines Clowns zu sein schien und den Toten jeglicher Würde beraubte, und am unrasierten, dreckverschmierten Gesicht. Schlimmer als diese Nebensächlichkeiten war der Ausdruck der Totenaugen, welche auf Joey niederstarrten. Die Flamme hauchte ihnen neues unheimliches Leben ein. In ihnen war pure Verzweiflung unverkennbar und nicht der Tod hatte sie in seinen Blick hineingezaubert, da war Joey sicher. Was hatte der Tote gesehen, dass er so schauen musste? Ganz gleich, was es gewesen war: dass er danach seinem eigenen Fleisch Gewalt zufügen musste, wurde dadurch verzeihlich. Joey spürte ein Brennen in seinen Augen, hinter seinen Augen, als ihm klar wurde, dass er diesen Blick kannte, wenn auch in abgeschwächter Form. Er kannte ihn von sich selbst, von seinem Spiegelbild, in das er morgens starrte: ganz so, als wäre dies ein letztes verschrecktes Indiz Minuten vorher durchlebter Alpträume.
    Das

Weitere Kostenlose Bücher