Totenrache und zehn weitere Erzählungen
rostigen Bahngleise, über die seit vielen Jahren kein Zug mehr gefahren war. Manchmal kickte er unabsichtlich einige Steine beiseite, die im Gleisbett lagen. Die letzten Schritte bis zum Tunneleingang legte er im Dunkeln zurück. Das Gewicht der Frau auf seiner Schulter machte ihm mittlerweile zu schaffen. Schwer rang er nach Luft, und als er in den muffigen Tunnel eintrat, wehte ein schwaches Echo zurück an seine Ohren, als würden tausend Münder aus der Finsternis zurückseufzen.
Unsicher blieb er stehen und schaltete seine Taschenlampe ein, deren Licht Unmengen von Unrat und pure Verwüstung aufdeckte. Freeman sah zu seiner Rechten zu einem Berg angehäuften Müll, meist Flaschen, die zerbrochen waren, und verrostete Bierdosen, aber auch zu einer Pampe aufgeweichte Zeitungen und Kleidungsstücke, selbst unbrauchbare Möbel waren darunter. Er nahm an, dass es sich um Hinterlassenschaften von Obdachlosen handelte, die sich hier soweit wohnlich eingerichtet hatten, wie das in einem zugigen, dunklen Tunnel möglich war. Freeman konnte sich an Diskussionen erinnern, die vor einigen Jahren durch Londons Lokalzeitungen gegangen waren, die sich um das wenig zurückhaltende Treiben der Tunnelbewohner drehten, und an die Versprechungen der Stadtväter, diesen Zustand so schnell wie möglich zu beenden. Es sah so aus, als hätten sie das geschafft.
Schwarz schimmerte der rohe Fels der Wände, an dem an einigen Stellen Regenwasser herabperlte, das sich am Boden zu Pfützen und kleinen Seen angesammelt hatte. Die Schienen beider Gleise waren in einem denkbar schlechten Zustand, die Bohlen zu einer weichen, schimmelnden Masse aufgeweicht. Außerhalb des kleinen Lichtkreises, den seine Taschenlampe zu werfen vermochte, glaubte er gelegentlich Schatten zu erkennen, die umherwuselten und lauerten, und dass es sich dabei nicht um eine Täuschung handelte, begriff er, als er schließlich die leisen fiependen Laute der Ratten hörte. Angewidert verzog er das Gesicht.
Freeman schwankte mit seiner Last über den unebenen, mit großen Steinen übersäten Boden, die Luft wurde immer unerträglicher, mittlerweile war sie zu einem Gemisch aus Fäulnis und Urin reduziert worden. Der Tunnel erstreckte sich seiner Schätzung nach über eine Entfernung von mehr als zwei Kilometern, aber es genügte – jedenfalls hoffte er es -, wenn er die Strecke nur zu einem kleinen Teil bewältigte. Aber noch hatte er den Punkt nicht erreicht, an dem er Christine in ihr würdeloses Grab legen konnte. Ganz in der Nähe lag ein alter, aufgeweichter Schlafsack mit aufgeplatzten Nähten. Leicht stupste Freeman ihn mit einem Fuß an und zuckte erschrocken zurück, als aus dem Innern ein wütendes Fiepen drang.
Verbissen ging er weiter. Das feuchte Haar Christines kitzelte ihm unangenehm im Gesicht, und ihre pendelnde Hand schlug bei jedem Schritt, den er machte, gegen seinen Bauch.
Immer wieder überkam ihn Wehmut und Trauer. Die Entwicklung der Dinge, die in den letzten beiden Stunden geschehen waren, verwirrte ihn ständig aufs Neue. Er hätte sich nie träumen lassen, dass er innerhalb weniger Minuten die ganze Leiter der Gefühlsregungen, zu denen Menschen fähig waren, rauf- und runtergejagt war: blinde Liebe, die sich zu Ekstase steigerte und schließlich in zerstörerischem Hass umschlug. Und nun suchte er in einem unheimlichen, rattenverseuchten Eisenbahntunnel nach einem Grab für die Frau, die ihm all diese Empfindungen zugemutet hatte.
Immer wieder musste er gegen aufkommende Panik ankämpfen. Es kostete ihn viel Mühe, die Nerven zu bewahren und stur nach vorn zu starren. Er folgte den verrosteten Strängen der Schienen, die oft um mehr als eine Handbreit verzogen waren. Wann war hier der letzte Zug gefahren?, überlegte er. Vor zwanzig, dreißig Jahren? Zu einem Zeitpunkt, als er selbst noch ein Kind gewesen war.
Nach weiteren zehn Minuten beschwerlichen Marsches wankte er völlig entkräftet zu der rohen Felswand, die sich rechts von ihm hinzog, und legte dort die Leiche nieder. Christines mit Blut besudeltes Gesicht blickte in seine Richtung. Mit leisem Grausen erkannte Freeman, dass ihre Augen im Licht der Lampe funkelten; geradeso, als wäre ein wenig Leben in sie zurückgekehrt. Blickten sie nicht spöttisch?
Nein!, beschwor er sich und atmete langsam ein und aus: Trugschluss! Seine überreizten Sinne gaukelten ihm Leben vor, wo keines war.
Christines Nase stand etwas zur Seite ab, zertrümmert von der rohen Gewalt der über sie
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