Totenreigen
so vor sich hingenickt, während wir redeten. Und die Tür hat er
auch nicht hinter sich zugemacht. Er hatte sie nämlich offen stehen lassen, als
er reinkam.«
»Ist ja auch einfacher für ihn. Ich denke, wir müssen uns keine
Sorgen um ihn machen. Ich kenne ihn schon ein paar Jahre länger. Er ist so, wie
er ist.«
Lüthje fragte sich, wo er diesen blöden Spruch aufgeschnappt hatte.
5.
Ursula Drübbisch wohnte in einem mehrstöckigen
Terrassenhaus am Niemannsweg.
Sie war eine attraktive Frau, mit glattem blondem Haar und
silbergrauer Strähne, mit einer angenehmen Stimme. Sie sah Lüthje nur flüchtig
an, als sie die Tür öffnete, als wäre er ein ihr bekannter, aber nicht gern
gesehener Gast.
Sie bot ihm Tee an. Sie habe nur chinesischen Oolong und einen Earl
Grey. Ein guter Anfang, dachte Lüthje.
Vom Wohnzimmer aus konnte er sie in der Küche hantieren sehen. Ihre
Bewegungen hatten etwas Vertrauenerweckendes. Sie goss den Tee in zwei kleinen
Kannen auf, rührte darin herum und zog schon nach einer halben Minute große
Teebeutel heraus. Danach nahm sie etwas aus einem Wandschrank und drückte aus
einer Folie zwei Tabletten in die Hand. Als sie innehielt und langsam aufsah,
sah er weg und ging schnell auf den Balkon.
Auf dem großen Balkon standen dunkle, dick gepolsterte Holzstühle
und der passende Tisch. Darüber schwebte eine ausgefahrene Markise, die auch
das Wohnzimmer in das Licht eines hochsommerlichen Nachmittags tauchte. Die
Wohnung lag im fünften Stock, sodass man über den Wipfeln des Düsternbrooker
Gehölzes auf dem gegenüberliegenden Fördeufer die Schwentinemündung, die
Portalkräne der Werft und das Kohlekraftwerk mit seinem hohen weißen
Schornstein sehen konnte, dessen weiße Rauchfahne von leichtem Wind Richtung
Nordosten getrieben wurde.
»Man kann den Balkon von allen Zimmern aus betreten«, rief sie ihm
vom Wohnzimmer aus zu, während sie den Tisch deckte. »Er geht dort hinter der
Ecke noch weiter, fast um das ganze Haus herum.«
Von jedem Zimmer ein Fluchtweg nach draußen, dachte Lüthje. Er sah
über die Balkonbrüstung nach unten. Der Balkon im unteren Stockwerk stand etwa
einen Meter weiter nach außen, so wie das bei Terrassenhäusern üblich war. Wenn
dort jemand säße, hätte er ihm bequem auf den Kopf spucken können.
»Schön haben Sie es hier«, sagte Lüthje. Er betrat wieder das
Wohnzimmer. Auf einem Fensterbrett stand eine gläserne Bonbonniere, gefüllt mit
Muscheln.
»Ich würde auch lieber draußen sitzen«, sagte sie und schloss hinter
ihm die Balkontür. »Aber es ist dort sehr hellhörig.«
Sie hatte so gedeckt, dass sie sich an einer Ecke des sehr niedrigen
gläsernen Tisches in den Sesseln der hellblauen Sitzgarnitur schräg
gegenübersaßen.
Sie servierte ihm den Tee in einem kleinen Kännchen und einer
dünnwandigen Tasse. Er trank die Tasse in einem Zug aus. Sie schien es nicht zu
bemerken, während sie vorsichtig an ihrem Oolong nippte, der ihr Lieblingstee
sei, wie sie ausdrücklich betonte, bevor sie die Tasse zum Mund hob.
Lüthje zog sich kommentarlos das Cordjackett aus, stellte den
Rucksack neben sich und dankte ihr, dass sie sich trotz des schweren
Schicksalsschlages schon zu einem Gespräch mit ihm bereit erklärt hatte.
»Meine Therapeutin meinte, meine Seele braucht jetzt eine
Pharmakrücke, um nicht auszurutschen«, sagte sie. »Sonst könnte ich die Tasse
nicht ruhig halten.« Sie hob die Tasse demonstrativ hoch. »Sehen Sie? Na ja,
einigermaßen.« Als sie die Tasse wieder absetzte, schwappte der Tee etwas in
die Untertasse.
»Sie sind in Behandlung?«, fragte Lüthje, als habe er sie nicht
verstanden.
»Seit dem Tod meines zweiten Mannes.« Sie hielt einen Moment inne
und sah Lüthje dann überrascht an, als sei ihr etwas längst Vergessenes
eingefallen. »Wann wird eigentlich Horsts Leiche freigegeben?«
Lüthje war über die »professionelle« Wortwahl erstaunt. Aber sie
hatte ja Erfahrung.
»Ich nehme an, dass es nicht mehr lange dauern wird. Wir warten noch
auf den Bericht der Gerichtsmedizin.«
»Hat die Firma Klockemann ihn abgeholt?«
»Nein, ein anderer Bestatter von der Bereitschaftsliste.«
Sie nickte, als ob sie es verstanden oder nachträglich zugestimmt
hätte. Nach einer kurzen Pause, in der sie ins Leere sah, fragte sie: »Wie ist
er gestorben?«
»Der Mörder hat ihm von hinten die Kehle durchgeschnitten. Man hat
keine Kampfspuren an Ihrem Sohn feststellen können. Die Spurenlage spricht
dafür, dass er
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