Totenreigen
was er antworten sollte. Aber noch schwieg er.
»Wenn es auch nur im Entferntesten mit dem Mordfall zu tun hat …«,
sagte Lüthje eindringlich, »… müssen Sie es mir sagen.«
Albert Sundermeier sah zu Boden. Er kämpfte mit sich. Schließlich
atmete er tief durch und sagte: »Wir setzen uns ins Gartenzimmer.«
Sie setzten sich, wie gestern, in dieselben zwei Sessel, die sich
schräg gegenüberstanden, mit Blick in den Garten.
»Es hat nichts mit dem Mord zu tun, und trotzdem ist es besser, ich
erzähle Ihnen die Geschichte. Ich weiß nicht, was Ingrid dar über erzählen
würde oder schon erzählt hat.«
Albert Sundermeier sah Lüthje abwartend an, als ob ihm der zu Hilfe
kommen würde.
»Es ist nämlich so … dass wir … dass ich mit Frau Klockemann vor
längerer Zeit eine Beziehung hatte. Aber das ist vorbei.«
»Warum ist es vorbei?«, fragte Lüthje.
»Sie sind nicht überrascht? Hat sie Ihnen etwas gesagt?«, fragte
Albert Sundermeier.
»Nein. Ich habe mir nur Gedanken gemacht, warum Sie beide, Sie und
Frau Klockemann, die Redewendung ›Es ist, wie es ist‹ gebrauchen. Bei
irgendeiner Unterhaltung in diesen Tagen habe ich mich dabei ertappt, wie ich
diese Redewendung auch gebrauchte. Da wurde mir bewusst, dass ich sie bei Ihnen
beiden aufgeschnappt hatte.«
Er sah Lüthje sprachlos an.
»Dann ist mir wieder eingefallen …«, fuhr Lüthje fort, »… dass
es eine Redewendung in einem Gedicht Erich Frieds gibt. Ich kann mich leider
nur an die ersten beiden Zeilen erinnern. ›Es ist Unsinn, sagt die Vernunft. Es
ist, was es ist, sagt die Liebe.‹«
Albert Sundermeier sah in den Garten, nickte und setzte das Gedicht
fort: »›Es ist Unglück, sagt die Berechnung. Es ist nichts als Schmerz, sagt
die Angst. Es ist aussichtslos, sagt die Einsicht.‹«
Er wandte sich wieder zu Lüthje. »Ich hatte ihr das vollständige
Gedicht am Beginn unserer Beziehung in einem Brief geschrieben. Ja, wir haben
uns Briefe geschrieben. Und mit der Post geschickt. Ins übernächste Haus. Drei
bis vier Tage hat das jedes Mal gedauert, bis der Brief da war.«
»Warum ist es vorbei?«, fragte Lüthje.
»Sie will es nicht akzeptieren. Aber es ist nun mal, wie es ist.«
»Was ist, wie es ist?«
»Es fällt mir schwer, es auszusprechen … aber sie versucht … ich
soll Lambert abschieben in eine Wohngemeinschaft. Sie hätte sich erkundigt,
dass es so was gibt. Aber natürlich nicht in Laboe. Es würde ihn zerstören. Sie
fängt immer wieder davon an. Sie kann ihn nicht ertragen. Sie akzeptiert ihn
nicht. Er ist an allem schuld, was mir widerfährt. Jeder Schnupfen, jedes
berufliche Problem. Lambert spürt, dass sie sein Feind ist, und macht einen
großen Bogen um sie. Irgendwann habe ich die Notbremse gezogen und die
Beziehung zu Ingrid Klockemann beendet.«
»Aber sie lässt nicht locker?«, fragte Lüthje.
»Nein. Zuerst waren es endlose Telefonate. Bis ich nicht mehr abhob,
wenn sie anrief. Ihre Taktik ist jetzt, mir im Dorf aufzulauern. Das hat
natürlich den Vorteil, dass alle sehen, dass wir irgendetwas miteinander zu tun
haben. Ob ihr das recht war, dass Sie das gesehen
haben, weiß ich nicht.«
Vielleicht wollte sie es, dachte Lüthje.
»Hat sie Ihren Sohn in irgendeiner Weise belästigt?«
»Wenn sie es tun sollte … würde ich Sie um Hilfe bitten.«
4.
Der Security-Check fand schon vor dem Eingang des Wave
statt. Der Scancode an Lüthjes Karte wurde eingelesen und auf einem Laptop
geprüft.
Lüthje legte den Rucksack ab, entleerte seine Taschen und ging durch
die Sicherheitsschleuse. Danach wurde er mit einem Metalldetektor und per Hand
abgetastet. Ein Mann in schwarzer Uniform durchsuchte den Rucksack, öffnete
vorsichtig die Tüte mit dem Fischbrötchen, das Lüthje sich als Proviant für
alle Fälle mit einem guten Stück geräucherter Schillerlocke belegt hatte. Der
Mann holte das Brötchen im Zeitlupentempo aus der Tüte und sah mit gerümpfter
Nase auf den Belag.
»Ist von voriger Woche. Aber Geräuchertes hält ja etwas länger«,
sagte Lüthje.
Der Mann holte eine durchsichtige Plastiktüte unter dem Tisch
hervor, steckte die Fischbrötchentüte hinein und verknotete die Tüte.
»Sie können es behalten. Jetzt mag ich es nicht mehr«, sagte Lüthje,
nahm seinen Rucksack vom Tisch und gab ihn an der Garderobe ab.
Nachdem er die haushohe Empfangshalle durchschritten hatte, wurde er
am Saaleingang von einer Dame im schwarzen Hosenanzug noch einer unauffälligen
Sichtprüfung
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