Totenruhe
nach Loss’ Mix-Rezept aus und ich stieg irgendwann breit wie ein Amtmann ins Bett. Am nächsten Morgen wurde ich telefonisch durch meinen Chefredakteur geweckt. Er fragte nach dem Stand meiner Recherchen und befahl schließlich streng sofortige Rückkehr in die Redaktion nach Dortmund. Da warteten eilige und dringlichere Arbeiten auf mich, er müsse umdisponieren und brauche mich sofort. Was sollte ich machen? Befehl ist Befehl.
Als ich Jahre später schließlich wieder nach Linden anreiste, hatte der Herbst Einzug gehalten im Land. Rot und braun gefärbte Blätter trieben durch die Straßen, ballten sich feucht zu rutschigen Hindernissen, vermischten sich mit ungelesenen Anzeigenblättern zu einem Konglomerat, das die Sauberkeitsbedürfnisse deutscher Haushalte empfindlich störte. Da die aber langsam in die Minderheit gerieten, schien man den Gewalten der Natur keine menschlichen entgegenstellen zu wollen. Größer war meine Enttäuschung, als ich von der Limmerstraße kommend in die Fannystraße einbiegen wollte. Sie war einfach nicht mehr da. Fortgeräumt wie ein kaputtes Kinderspielzeug. Nun war da keine leere Fläche, das neue Spielzeug war fix und fertig: Bewohnbarer Beton, versehen mit dreieckigen orangefarbenen Balkonen, die der Volksmund, wie ich schnell hörte, sachkundig Toblerone nannte. Niemand hatte sich getraut, diesen ungenießbaren Formen den Namen Fannystraße anzuschrauben. Der Name war getilgt, gelöscht aus dem kollektiven Gedächtnis der Lindener, schien mir. Denn meine Frage nach Wilhelm Loss und seinem Antiquariat wurde ausweichend oder gar nicht beantwortet. Bis einige Ältere die Vermutung äußerten, Loss sei verstorben. Sie erzählten es ohne Trauer und einer fügte hinzu, der neue Beton hätte ihn sowieso umgebracht, denn auch Wohnungen könnten Menschen töten. Mit einiger Genugtuung stellte ich fest, dass Koks von keinem meiner Gesprächspartner getrunken wurde, Pils und Korn hatten sich endgültig durchgesetzt.
Da blieb also nur noch einer, wenn überhaupt. Und der hieß Karl Preul und saß in einer Anstalt, von Loss unsensibel Klapse genannt. Die Anstalt konnte ich leicht ausfindig machen und mit meinem Presseausweis kam ich auch zum Direktor durch. Das war ein weißbekittelter distinguiert wirkender Mann im fünften Jahrzehnt eines beschaulichen Beamtenlebens, behutsam, weihevoll, einer, der auch als Pastor glaubwürdig wirken könnte.
»Karl Preul, der Dichter? Aber ja, der wohnt bei uns, zu aller Nutzen.«
Was über ihn zu sagen wäre?
»Ihr Lieben, glaubt nicht einem jeden Geist, sondern prüft die Geister, ob sie von Gott sind; denn es sind viele falsche Propheten ausgegangen in die Welt«, belehrte er mich. Er bemerkte mein Unverständnis und ergänzte: »1. Johannes, Kapitel 4, Vers 1.«
Ob Preul Besuch empfangen dürfe?
»Er darf. Aber ob er will?« Der Direktor schaute an die Decke und zeichnete mit der ausgestreckten Hand einen Kreis in die Luft. »Gehen Sie zu ihm. Zweiter Trakt, dritte Tür rechts. Herr Preul wird nicht zwangsverwahrt. Aber seien Sie distanziert, Preul hat sich aus den Widrigkeiten des Alltags weitestgehend zurückgezogen.«
Mit einiger Beklommenheit ging ich. Mir wäre wohler gewesen, wenn ich den trinkfesten und belesenen Wilhelm Loss dabei gehabt hätte. In der Manteltasche trug ich Preuls verbotenes Buch dabei, seinerzeit für eine Mark bei Loss erworben.
Auf dem Trakt reihte sich Zimmer an Zimmer. Einige Insassen standen untätig auf dem Korridor, schauten mir neugierig nach, tuschelten, manche grinsten. Dann stand ich vor der angegebenen Tür. Zaghaft klopfte ich. Keine Reaktion. Ich klopfte heftiger. Nichts tat sich. Entgegen der Weisung des Direktors setzte ich alles auf eine Karte und öffnete mutig die Tür. Ein Bett und Bücher über Bücher. Dazwischen ein kleiner Tisch, ebenfalls mit Büchern überfüllt und ein Mann auf einem Hocker, den Rücken mir zugewandt.
»Entschuldigen Sie …«. Der Mann reagierte nicht. Er blätterte in einem Buch und machte sich offenbar Notizen. Er war so beschäftigt, dass er mich überhaupt nicht wahrnahm. Ich trat einige Schritte auf ihn zu – keine Reaktion. Dann klopfte ich ihm vorsichtig, geradezu zärtlich auf die Schultern, um meine Anwesenheit zu melden. Da drehte er sich langsam und wie abwesend um. Der Mann, der mich musterte, war niemand anders als Wilhelm Loss.
»Der Journalist aus dem Ruhrpott«, erkannte er mich, ohne zu zögern. »Du hast dir viel Zeit gelassen. Außerdem hast du mich
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