Totenruhe
die Kurve bekommen?«
»Mein rettender Engel hieß Sabine Schütte, Bennos Tochter. Die war als Psychologin im Heim tätig, und irgendwann sprang der Funke über. Von ihr zu mir oder von mir zu ihr? Die Reihenfolge ist mir nicht mehr geläufig, ist wohl auch belanglos. Sabine war und bleibt das große Los in meinem Leben. Sie müssten Sie eigentlich kennen …«
»Ja, natürlich, Bennos Tochter. Nettes Mädchen.«
»Hübsches Mädchen«, ergänzte Robert Humdorf. »Durch sie bin ich ins normale Leben zurück gekehrt. Das Heim wurde vor zwei Jahren aufgelöst, die restlichen Bewohner nach Wunstorf verlegt. Aber das wissen Sie sicherlich.«
Humdorf schien schwer an der Geschichte zu tragen, er musste sie los werden. Preul war zu einer Drohung geworden, die auch sein Tod nicht minderte. Der Schwiegervater Benno Schütte war Handwerker, als solcher ungeeignet, Geschichte zu interpretieren, die sich um Urheberrechte und Kunstschaffen drehte. Gediegenes Handwerk stand hier gegen Fantasie, eherne Mathematik gegen Träume. Humdorfs Frau war pragmatisch, verstand nicht, warum er einen Ballast wie Preul nicht einfach abwarf. Glaubte sie ihm überhaupt? Immerhin war sie Psychologin.
Sauerbier ahnte, dass seine neue Bekanntschaft Folgen zeitigen würde. Doch welcher Sprengstoff darin verborgen war, konnte er sich nicht einmal in seinen kühnsten Träumen ausmalen.
12.
Für manche Lindender Kulturarbeiter war es seit Jahrzehnten Ehrensache, den Dienstag zu heiligen, an dem man einen gemeinsamen Stammtisch aufsuchte. Der tagte bei »Lorberg« und mit größeren Partys auch im »Stern«. Die Themen zwischen schankfrischen Herri-Gläsern waren vielfältig, nur Pastor Sauerbier neigte seit einiger Zeit zur Einseitigkeit. Lindemann reagierte gereizt.
»Gibt es außer Friedhof keine anderen Themen mehr«, flehte er den Gottesmann an. Noch waren sie allein am Tisch und niemand störte den Dialog.
»In meinem Alter nicht. Und Sie kommen auch dahin. Wissen Sie, was ich im ›Kicker‹ gelesen habe?« Der Pastor schaute erwartungsvoll. Lindemann nahm einen kräftigen Schluck Bier und schoss den Ball zurück: »Ronaldo kommt zu Hannover 96.«
Sauerbier stutzte. »Meinen Sie das ernsthaft?« Lindemann winkte ab. »Das ist mindestens so ernsthaft wie die Wiedereröffnung des Bergfriedhofs. Also: Was stand im ›Kicker‹?«
»Da hat sich der Trainer von Manchester United geäußert, Sir Alex Ferguson. Der sagt: ›Im Alter von 68 Jahren denkt man, wenn man abends schlafen geht, nur daran, am nächsten Morgen aufzuwachen.‹ Das stimmt mich als Betroffenen sehr nachdenklich.«
»Verstehe ich nicht«, konterte Lindemann. »Die Leute werden doch inzwischen viel älter. Männer werden bei uns 78 und Frauen gar 84.«
Sauerbier schüttelte den Kopf. »Das ist Statistik, Lindemann, und der sollte man nicht trauen. Nehmen Sie ein Beispiel. Wir sind beide hungrig und ich esse ein Hähnchen, Sie bekommen gar nichts. Ich werde dann satt sein und Sie hungrig wie zuvor. In der Statistik ist das ganz anders. Die sagt, wir haben jeder ein halbes Hähnchen gegessen und sind somit beide satt.«
Lindemann atmete schwer durch. »Ferguson stirbt mit 68 und Sie mit 88, dann stimmt die Statistik. Richtig?« Der Pastor war unzufrieden. »Damit macht man keine Scherze und schon gar keine Statistik. Im Übrigen: Ewig währt am längsten«.
»Sprüche. Na, jedenfalls ging es den Alten nie besser als jetzt. Die Grauen sind überall im Vormarsch.«
»Wie meinen Sie das?«
»Bei den Jüngsten sind Oma und Opa doch die Stars. Sie haben Zeit und manche auch Geld, das in kleiner Münze dann schon mal an den Nachwuchs ihres Nachwuchses ausgeteilt wird. Ihre Vorbildwirkung ist verheerend. Wenn die Enkel sehen, dass Oma den ganzen Tag Rollator fährt und dabei mindestens zehn verschiedene Bonbonsorten lutscht, die sie schalkhaft Pillen nennt, muss man sich nicht wundern, dass Deutschlands Jugend den Arsch nicht hochkriegt. Andererseits lassen sich die Alten kaum in soziale Strukturen einbinden. Sollen sie mal etwas Vernünftiges tun, also beispielsweise Kinder hüten oder Unkraut jäten, dann haben sie es im Rücken, manche auch in der Hüfte, andere in den Beinen. Ihr Ideenreichtum im medizinischen Bereich ist grenzenlos.«
»Wo haben Sie diese Horror-Geschichte her?« Sauerbier schaute unfroh. Lindemann blieb vage. »Man hört dieses und liest jenes. Aber trösten Sie sich. Ärger mit den Alten hat es immer und überall gegeben.«
»Weil ihnen das
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