Totenruhe
werden es nicht glauben: die Polizei. Man sagte mir schon in Kindheitstagen, das sei deren Aufgabe. Haben Sie andere Erkenntnisse?« Er griff nach einer Flasche und verkündete, dieses sei genau die Tageszeit, wo er seine Medizin nehmen müsse. Er habe sie sich selber verordnet und der Erfolg stelle sich täglich aufs Neue ein. Ein Gläschen Heidelikör, hochprozentig, von manchen auch Ratzeputz genannt. Der fege so richtig durch die müden Gedärme, entfache ein vorüber gehendes Höllenfeuer. Und ob er das Medikament dem Pastor auch verordnen dürfe? Er durfte. Die Männer tranken bedächtig und Sauerbier bekam einen Hustenanfall. Er rang nach Luft und schaute durch einen Schleier von Tränen auf den feixenden Arzt. Die Verordnung dieser rezeptfreien Medizin schien dem immer wieder Freude zu bereiten.
»Durchhalten, Herr Pastor. Es ist ein so herrliches Gefühl, wenn der Brand nachlässt und man wirklich weiß, dass man auch diese Tortur überlebt hat.«
Gierig sog Sauerbier Luft ein. Wenn Wodka das reine Wort Gottes ist, dachte er, dann ist dies das reine Wort des Teufels.
»Ansonsten muss ich Sie enttäuschen, lieber Pastor Sauerbier«, setzte der Arzt seine Erklärungen fort. »Ich habe keinem Karl Preul den Passierschein für die Ewigkeit ausgestellt.« Sauerbier setzte sich steif auf die Kante des Sessels. »Sie sind überrascht? Nun, gestern war ein Herr von der Polizei hier. Doll, Kroll..« »Stoll«, verbesserte Sauerbier und biss sich auf die Lippen. »Richtig, Herr Stoll schwenkte einen mysteriösen Totenschein, aber einen Ratzeputz hat er bedauerlicherweise abgelehnt. Er sei im Dienst. Ja, das ist dann wohl ein freudloser Dienst.«
»Was war mit dem Totenschein?« Sauerbier war ganz gespannte Aufmerksamkeit. »Ich habe ihn nicht ausgestellt«, versicherte der Arzt.
»Wissen Sie das ganz genau, haben Sie Ihre Unterlagen überprüft?«
»Unterlagen dieser Art habe ich nicht.«
»Aber Sie wissen nach drei Jahren noch ganz genau, dass Sie keinen Totenschein für Karl Preul ausgestellt haben?«
»Ja, mein lieber Pastor, das weiß ich ganz genau. Ich habe nämlich noch nie einen Totenschein ausgestellt. Ich war zeitlebens Tierarzt, verstehen Sie? Möchten Sie jetzt vielleicht noch einen Ratzeputz?«
21.
Die Dokumentarfilm-Autorin Simone Witte war das, was man gemeinhin eine attraktive Frau nannte. Modische Kurzhaarfrisur, die Kleidung nicht überdreht, aber durchaus im Trend. 32 Jahre alt, geschieden. Kinder? Man wusste es nicht. Wenn ja, war sie nicht regelmäßig für deren Aufzucht zuständig, was die Ausübung ihres Berufs begünstigte. Sauerbier bezeichnete sie in seiner altfränkischen Art vor dem kopfschüttelnden Lindemann als »schnuckelig«. Je oller desto doller, merkte der an, was den Pastor zum Bekenntnis veranlasste, so alt sei er auch nicht und längst noch nicht jenseits von Gut und Böse. Lindemann stellte fest, dass sich Männer zwischen spätkindlichen 14 und Sauerbiers Pensionsalter nach der Frau umdrehten. In einem Anflug von Ehrlichkeit dachte er auch noch an sich selbst, doch da fiel ihm brennend heiß seine Freundin Monika ein und das Gebot, »du sollst keine anderen Götter haben neben mir«.
Simone Witte war feste Freie beim NDR. Das hieß, sie bekam regelmäßig Aufträge des Senders, ohne fest angestellt zu sein. Also eine freie Mitarbeiterin, die sich bei schwankenden Einkünften um ihre Sozialversicherung selber zu kümmern hatte. Ihr Themenschwerpunkt war die Aufarbeitung von Heimatgeschichte. Sie recherchierte, schrieb Texte und Drehbücher, aus denen andere dann Filme und Magazinbeiträge machten. Gern arbeitete sie mit Zeitzeugen, was ihre Geschichten hieb- und stichfest untermauerte.
Eindruck machte Simone Witte auch auf Robert Humdorf, der für eine Ausnahme von der Regel einfach ungeeignet war. Sie war über seinen Schwiegervater an den Ex-Journalisten gekommen. Bis ins Detail nahm sie die Geschichte des Karl Preul auf, bei der Humdorf nur die Kleinigkeit ausließ, dass er seinerzeit auch Insasse der Klinik in Wunstorf war.
Simone Witte nutzte ihre Attraktivität selten zum Männerfang, jedoch gern für berufliche Zwecke. Humdorfs Aktivitäten im Stadtteil beeindruckten sie. Ihr wurde schnell klar, dass er mehr wusste, als er ihr anvertraute. Den Provider seines Mobiltelefons bekam sie leicht im Gespräch heraus. Ihre Beziehungen waren so gut, dass sie darüber auch eine Liste bekam, mit wem Humdorf im letzten Monat telefoniert hatte. Das war natürlich
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